Ein ganzes Universum voller Eigenschaften

Stärkere Batterien, günstigere Katalysatoren, knochenfreundlichere Hüftgelenke: Neue Materialien entscheiden darüber, in welcher Welt wir künftig leben. Mit mächtigen Computersimulationen stoßen die Forscher in neue Bereiche vor.

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Lesezeit: 4 Min.
Von
  • Denis Dilba
  • Tom Simonite

Dieser Text-Ausschnitt ist der aktuellen Print-Ausgabe der Technology Review entnommen. Das Heft ist ab 24.4.2017 im gut sortierten Zeitschriftenhandel und im heise shop erhältlich.

In der Theorie funktioniert ein klimafreundliches Kohle- oder Gaskraftwerk ganz einfach: Bevor das Kohlendioxid aus den Verbrennungsprozessen in die Atmosphäre gelangt, wird es aus den Abgasen gefiltert. Dann bewahrt man das Klimagas langfristig und sicher auf. Fertig. Doch in der Praxis zeigt sich bei solchen Carbon-Capture-and-Storage-(CCS)-Verfahren ein Problem: „Die CO2-Filter sind schlicht zu ineffizient“, sagt Tom Woo, Chemiker an der University of Ottawa. Betriebe man CCS mit aktuellen Filtermaterialien, würden die Energiepreise extrem steigen. Unter anderem müssen die Filter zu oft gewechselt werden, und es wird zu viel Energie benötigt, um das CO2 wieder aus dem Material zu lösen. Woo will das ändern und untersucht dazu die Materialklasse der metallorganischen Gerüste, im Englischen Metal Organic Frameworks (MOF). Sie bestehen aus Metallen und organischen Molekülen, also kohlenstoffbasierten Verbindungen, die häufig Wasserstoff, Sauerstoff, Stickstoff oder Halogene enthalten. Das Gemisch bildet dreidimensionale Netzwerke mit feinsten Poren – in ihnen lassen sich Gase wie CO2 speichern.

Der Haken dabei: Es gibt Millionen verschiedene Kombinationen. Alle herzustellen und zu testen, ist aus Zeit- und Kostengründen unmöglich. „Wir haben daher eine Auswahlmethode entwickelt, mit der wir die Spreu vom Weizen trennen“, sagt Woo. Den Ausleseprozess imitiert der Forscher im Computer: Ausgehend von den derzeit effizientesten CO2-Filtern lässt er die Nachkommen verschiedener MOF-Kombinationen berechnen. „Die Materialen mit den besten CO2-Filter-Eigenschaften gehen dann in die nächste Runde, sodass nach vielen Rechenschritten ein Optimum herauskommt“, sagt Woo. Mit dieser Methode versechsfachte sein Team die CO2-Aufnahme des bisherigen Filtermaterials. Gleichzeitig halbierten sie den Energiebedarf, der nötig war, um das Kohlendioxid nach Aufnahme wieder aus dem porösen Material zu lösen. So rückt eine wirtschaftliche CO2-Abscheidung erstmals in greifbare Nähe.

Woos jüngste Entwicklung ist ein Beispiel für das große Potenzial, das neue, verbesserte Simulationsmethoden heute den Materialwissenschaftlern bieten. Sie bringen nahezu im Wochentakt neue Werkstoffe für verbesserte Katalysatoren (Seite 98), neue Anwendungen von Graphen (Seite 90), leistungsfähigere thermoelektrische Werkstoffe (Seite 94) und biegsame Elektronik (Seite 96) hervor – teilweise bislang unbekannte Materialien mit vollkommen neuen Eigenschaften. Es herrscht Goldgräberstimmung: „Da kommt bei mir ein bisschen dieses Raumschiff-Enterprise-Gefühl auf: Wir entdecken mitunter Dinge, die noch kein Mensch zuvor gesehen hat“, sagt Dierk Raabe, Direktor des Max-Planck-Instituts für Eisenforschung in Düsseldorf. Die MOF sind dabei nur ein winzig kleiner Ausschnitt, wie eine Überschlagsrechnung zeigt: Die Eigenschaften von Stahl etwa, bestehend aus Eisen und Kohlenstoff, verändern sich mit Tausendstelabstufungen im Kohlenstoffgehalt. Kommt nur noch ein drittes Material dazu, etwa Nickel, dann hätte man bereits 1000 mal 1000 Abstufungen. Und wenn man von den 60 Elementen des Periodensystems, die wir heute kommerziell nutzen, überall in diesen Abstufungen verschiedene Legierungen herstellen würde, bekäme man 1070 mögliche Materialien.

Die Fülle an Varianten ist so groß, dass ihre Berechnung selbst die Fähigkeiten modernster Computer überschreitet. Einfach drauflosrechnen und abwarten, was der Computer vorschlägt, wird also nicht funktionieren. Eine wichtige Frage für den Materialwissenschaftler ist daher: Was will ich eigentlich? „Wenn ich etwa weiß, dass ich Titan elastischer, einen Turbinenwerkstoff temperaturbeständiger oder ein Flugzeugfahrwerk leichter machen will, kann ich eine möglichst schlaue Vorauswahl von Elementen treffen und dann erst rechnen“, so Raabe. Der MPI-Forscher hat auf diese Weise eine verbesserte Titanlegierung für Hüftprothesen entwickelt.

Die Fokus-Artikel im Einzelnen:

Seite 82 - Simulation: Dank neuer Superrechner entdecken Forscher völlig neue Materialien

Seite 87 - Praktisch: Anpassungsfähige Gelenkmanschetten und Kühlfolien für Gebäude

Seite 88 - Zweidimensional: Hauchdünne Werkstoffe mit erstaunlichen Eigenschaften

Seite 92 - Eindimensional: Carbin – härter und fester als alles andere

Seite 94 - Energie: Mit neuen Materialkombinationen aus Abwärme Strom gewinnen

Seite 96 - Wearables: Leitend und geschmeidig zugleich – Elektronik geht zunehmend unter die Haut

Seite 98 - Katalysatoren: Die Verwandlung von Kohlendioxid in Sprit und Kunststoff

(grh)