Medikament nach Maß

Seit Langem träumen Mediziner von der individualisierten Medizin. Nun sollen Unmengen neuer Daten und künstliche Intelligenz sie endlich ermöglichen. Die Frage ist allerdings: Wie gläsern muss der Patient dafür werden?

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Von
  • Birgit Herden

Dieser Artikel-Ausschnitt ist der aktuellen Print-Ausgabe der Technology Review entnommen. Das Heft ist ab 9.11.2017 im gut sortierten Zeitschriftenhandel und im heise shop erhältlich.

Der Traum von einer Medizin der Zukunft geht so: Kommt ein Patient zum Arzt, dann erhält dieser Einblick in sämtliche Informationen, die für Diagnose und Therapieentscheidung hilfreich sein könnten. Untersuchungsergebnisse und Behandlungen aus einem ganzen Patientenleben sind per Mausklick verfügbar, ebenso die Genomsequenz mit allen Risikofaktoren. Der Arzt kann sich zudem über Essgewohnheiten, Blutzuckerwerte und Schlafrhythmen informieren oder erfahren, wann und bei welcher Pulsfrequenz sich sein Patient bewegt, wann er Schmerzen hatte, wie es um Beziehung und Job steht, welche Luft er atmet und vieles mehr. Weil der gute Doktor von solcher Datenfülle heillos überfordert sein dürfte, stehen ihm machtvolle Werkzeuge der künstlichen Intelligenz zur Verfügung. Deren Algorithmen verknüpfen die Symptome, Messwerte, Lebensumstände und Risikofaktoren mit den neuesten Studiendaten. Der Patient hilft dabei zugleich der Forschung – sein weiterer Behandlungsverlauf ist Teil einer medizinischen Studie in bislang unbekanntem Umfang.

Präzisionsmedizin nennen die Visionäre den Traum vom gläsernen Patienten, ein erstes Fundament soll die in den USA von Präsident Barack Obama ins Leben gerufene „Precision Medicine Initiative“ legen. Mindestens eine Million Freiwillige aus dem ganzen Land werden dabei ihre Krankengeschichte offenlegen, DNA-Proben abgeben, in detaillierten Fragebögen Auskunft über ihr Leben geben und Daten aus Fitness-Trackern und Gesundheits-Apps in die elektronischen Krankenakten einspeisen. Eine „neue Ära der Medizin“ kündigte Obama 2015 mit dem Projekt an. Seit September dieses Jahres werden die ersten Freiwilligen in einem Probelauf erfasst.

Eine solche Entwicklung scheint in Zeiten, in denen zunehmend die molekularen Grundlagen von Erkrankungen aufgeklärt werden, geradezu zwingend. Bei Krebserkrankungen etwa trägt jeder Tumor eine individuelle Handschrift, sind andere Kombinationen von Genen mutiert. Entsprechend maßgeschneidert müssten die Therapien sein.

Doch so bestechend das Konzept ist, so überschaubar sind bisher die Erfolge der personalisierten Medizin und so umstritten ihr Nutzen. Seit mehr als 15 Jahren preisen Forscher ihre möglichen Segnungen, spätestens mit der Entschlüsselung des menschlichen Erbguts 2003 sollte der Weg frei sein. Leider erweist sich der Zusammenhang von Genen und Krankheit komplizierter als ursprünglich gedacht. So ist zum Beispiel klar, dass Typ-2-Diabetes eine starke erbliche Komponente hat: Sind beide Eltern erkrankt, liegt die Wahrscheinlichkeit, dass ihre Kinder ebenfalls an Diabetes leiden werden, bei 70 Prozent. Zugleich ist aber der Einfluss einzelner Gene gering, und insgesamt tragen 50 bis 150 kleine Variationen im Erbgut zum Risiko bei. Die wirken zudem in einem noch kaum verstandenen Wechselspiel mit Faktoren wie Ernährung und Bewegung zusammen.

Ausgerechnet eines der Vorzeigeprojekte untermauert die Probleme: Rund um den Globus setzen Kliniken den selbstlernenden Supercomputer Watson von IBM in der Krebsmedizin ein. Er vergleicht die Ergebnisse von Genanalysen in kürzester Zeit mit den Daten von Millionen anderer Patienten und Studienergebnissen und schlägt eine optimale Behandlung vor. Doch von der von IBM angekündigten Revolution der Krebsmedizin kann noch keine Rede sein. Dass Watson bessere Therapieempfehlungen geben kann als ausgebildete Onkologen, dafür gibt es bislang keinen Nachweis. Noch kämpft Watson mit Kinderkrankheiten, etwa mit dem Problem, von Menschen verfasste Akten mit ihren stilistischen Eigenheiten korrekt zu erfassen. Vor allem aber fehlt Watson noch der Zugang zu Daten im großen Stil. Weit entfernt von einer von Big Data genährten künstlichen Intelligenz beruhen seine Empfehlungen in erster Linie auf einem Training durch Onkologen des Memorial Sloan Kettering Cancer Center in New York

Die Fokus-Artikel im Einzelnen:

Seite 82 - Trend: Verspricht Digitalisierung eine neue Medizin-Ära?

Seite 86 - Politik: Wer verwaltet die Gesundheitsdaten?

Seite 88 - Therapie: Von der symptomatischen zur individuellen Behandlung

Seite 92 - Prävention: Die Krankheit mit Big Data schon im Keim ersticken – geht das?

Seite 96 - Interview: Zu Risiken und Nebenwirkungen der Präzisionsmedizin

(inwu)