Missing Link: Wenn der Kasten denkt - Niklas Luhmann und die Folgen
Gerade haben die Soziologen den 90. Geburstag des Systemtheoretikers Niklas Luhmann gefeiert. Die Informatiker stecken mitten in einem anspruchsvollen Digitalisierungsprojekt, seinen Gedankenkasten, sein "hölzernes Privat-Internet", zu verdaten.
Der aus Lüneburg stammende Verwaltungswissenschaftler Niklas Luhman ist der Donald Knuth der Soziologen, sein legendärer "Zettelkasten" mit 90.000 Einträgen ihre Kaaba. Dieser über 30 Jahre angelegte Kasten mit Notizen und Querverweisen wird derzeit digitalisiert und aufs Schönste mittels XML verknotet.
Damit entsteht das noch einmal im Computer, was Luhmann einst von seinem Zettelkasten behauptete, nämlich dass dieser Kasten sein ausgelagertes Gedächtnis sei und eine produktive Maschine ohnegleichen. Der Kommunikationstheoretiker Norbert Bolz beschreibt das so: "Niklas Luhmann wäre demnach kein genialer Autor, sondern ein Computer, der selektiert und kombiniert. Wissenschaftliche Verdienste seien in Wahrheit Zufälle. In Entdeckern und Erfindern walte nicht der Forschergeist, sondern eine 'Zufallssortiermaschine'".
Könnte man diese Maschine an IBMs Watson anflanschen und einen brauchbaren Luhmann-Algorithmus finden, so könnte es sein, dass zu Luhmanns 100. Geburtstag im Jahr 2027 eine ganz einzigartige Superintelligenz die Bühne betritt – und hoffentlich verständlich sein wird.
Luhmann-Algorithmus
Im Jahre 2017 hat man zum 90. Geburtstag von Luhmann schon einmal den Zettelkasten auf einem Kongress als Universalwerkzeug der Erkenntnis gefeiert. In Artikeln wird das hölzerne Privat-Internet des Soziologen gelobt. Parallel dazu ist im Suhrkamp-Verlag unter dem Titel "Systemtheorie der Gesellschaft" ein Wälzer aus den Beständen des Luhmann-Archivs erschienen, eine frühe Fassung des vor 20 Jahren veröffentlichten Hauptwerks "Die Gesellschaft der Gesellschaft".
Luhmanns in rund 500 Publikationen ausgebreitete Einsichten in das Funktionieren von sozialen Systemen beruhen auf der Kybernetik als Universalwissenschaft wie sie einst der Ur-Hacker Gregory Bateson in der Whole Earth Review propagierte und selbdritt von Heinz von Foerster dekliniert wurden. Ausgangspunkt aller Überlegungen ist jeweils die Unwahrscheinlichkeit, dass etwas überhaupt funktioniert. Ein paar Striche auf dem Asphalt, eine Ampel, eine Rechts-Vor-Links-Regel, der Schulterblick und schon funktioniert das System mit den Elementen Autos, Fußgänger und Fahrräder so leidlich, dass Tote weitgehend vermieden werden und dass das automatische Fahren bald von einem Computer übernommen werden kann.
Codes
Ob in Wirtschaft, Wissenschaft oder in den Medien, im jedem dieser Systeme funktioniert die Kommunikation zwischen den Elementen nach einer simplen Regel, die Luhmann Codes nennt und binär aufstellt. Geld/kein Geld in der Wirtschaft, wahr/unwahr in der Wissenschaft, Recht/Unrecht im System des Rechts oder eben Information/keine Information in den Medien, auf diese einfachen Unterscheidungen (von Luhmann "Leitdifferenzen" genannt) kann ein System heruntergebrochen werden.
Solche systemtheoretischen Unterscheidungen gibt es für viele Systeme, etwa dem der Technik mit dem Paar Kontrolle/Nicht-Kontrolle (= Störung) durch den Hacker. Letztere sind ohnehin sehr beliebt bei Luhmann-Schülern, sehen sie in ihnen doch die Erben der Intellektuellen längst vergangener, analoger Zeiten.
Für Systemtheoretiker und ihren binären Unterscheidungen stellt sich die heutige Gesellschaft natürlich digital da: "Der Siegeszug der Digitaltechnik in den letzten 20 Jahren ist Ausdruck dieser digitalen Struktur der Gesellschaft, nicht umgekehrt", erklärte Armin Nassehi unlängst auf der Herbsttagung des Bundeskriminalamtes, wo er das universale System der Mustererkennung systemtheoretisch analysierte.