Verdeckter Ausnahmezustand: 100 Tage § 155 in Katalonien

Plakat für die Freilassung der Gefangenen von assamblea

Auch spanische Kommentatoren kommen zunehmend zu der Einschätzung, dass die Justiz aus politischen Motiven gegen Katalonien eingesetzt wird

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Seit nun 100 Tagen regiert Spanien in Katalonien über den Paragraphen 155 durch. Eine Partei bestimmt nun dort, die gerade von 4% der Wähler gestützt wird. Grund ist das Verhalten des Verfassungsgerichts, das die Klage der Opposition zwar angenommen, aber die Maßnahmen nicht vorläufig ausgesetzt hat. Das ist sonst die Regel, wenn eine Beschwerde oder Klage der spanischen Regierung angenommen wird. So darf bis zum St. Nimmerleinstag gewartet werden, ob es rechtens war, dass die katalanische Regierung abgesetzt und das Parlament aufgelöst wurde und Zwangswahlen verordnet wurden.

Derweil herrscht eine Art verdeckter Ausnahmezustand. Der Richter am Obersten Gerichtshof Pablo Llarena glaube, dass in Katalonien "eine Art Ausnahmezustand herrscht", erklärt jedenfalls der Journalist Ernesto Ekaizer. Eigentlich arbeitet er für die große Tageszeitung El País. Da die sich aber immer spanisch-nationalistischer gegen Katalonien positioniert und sogar "alle Mittel" verteidigt, um Carles Puigdemont erneute Amtseinführung auch durch undemokratische Maßnahmen zu verhindern, kommt der in Argentinien geborene Journalist mit seiner Kritik nun eher in Medien wie TV3 in Katalonien oder im öffentlich-rechtlichen baskischen Rundfunk EITB zur Sprache.

In TV3 erklärte er, dass die Einschätzung des Richters "nichts mit der Realität zu tun" habe und auch nicht dazu dienen können, "eine Art Ausnahmezustand abzusegnen." Dieser Richter hat etliche ehemalige katalanische Minister inhaftiert und lässt erneut gewählte Parlamentarier nicht einmal an Parlamentssitzungen teilnehmen, womit er gegen die bisherige Rechtspraxis verstößt, da dies sogar Untersuchungshäftlingen, mutmaßlichen Mitgliedern der baskischen Untergrundorganisation, erlaubt wurde.

Die Worte von Ekaizer waren bewusst gewählt, nachdem Llarena die Tage nicht einmal dem ehemaligen Innenminister Joaquin Forn Haftverschonung gewährt hat, obwohl der auf seinen Parlamentssitz verzichtet und auch jedem einseitigen Vorgehen eine Absage erteilt hat. So kritisiert auch der andalusische Verfassungsrichter Joaquín Urias, Professor an der Universität Sevilla, dass die Entscheidung mit Ideologie gespickt sei: "Richter Llarena verschleiert nichts mehr, sein Beschluss von heute, mit dem er den Ex-Minister Forn im Gefängnis hält, bezieht sich ganz offen auf dessen politische Vorstellungen."

Tatsächlich widerspricht sich der Richter. Er spricht einerseits von der "legitimen Meinungs- und Ideologiefreiheit" des Angeschuldigten, führt aber die Tatsache, dass er "an seinem Unabhängigkeits-Gedankengut festhält, auch wenn es nach der Verfassung erlaubt ist", gegen ihn an. Llarena fordert, dass Forn sich "davon lossagen" müsse, um eine "mögliche Wiederholung der Delikte" zu verhindern. Anders gesagt, in der Zeit der Hexenverfolgung wäre Forn mit solch abstrusen Rechtsauslegungen auf dem Scheiterhaufen gelandet.

Das Problem des Richters ist, dass er nicht einmal Fluchtgefahr anführen kann, um die Haftverschonung zu verweigern. Forn war zunächst mit Puigdemont in Belgien, kehrte aber freiwillig zurück, um der Vorladung der Justiz Folge zu leisten. Die Willkür des Richters zeigt sich zudem daran, dass andere ehemalige Minister freikamen, darunter auch Dolors Bassa, die mit Forn zurückgekehrt ist.

Noch dramatischer ist, wenn das überhaupt geht, dass er weiter Jordi Sànchez und Jordi Cuixart im Knast hält. Sànchez, einst Chef der großen Katalanischen Nationalversammlung (ANC), und Cuixart, der Chef der Kulturorganisation Òmnium Cultural, sitzen sogar schon seit Mitte Oktober und nicht erst seit Anfang November im Knast. Mit ihrer Inhaftierung wegen "Aufruhr" war eine neue spanische Repressionsstufe gezündet worden. Die Jordis werden nicht einmal mit der deutlich höher zu bestrafenden angeblichen "Rebellion" beschuldigt, die Verfassungsrechtler als "grotesk" bezeichnen.

Spanische Regierung will katalonische Politiker präventiv über den Verfassungsrichter Llarena ausschalten

Der schnelle Niedergang des Richters Llarena ist spektakulär. Noch 2012 forderte er für den Konflikt mit Katalonien eine "politische Lösung". Zunächst hatte es noch den Anschein, als er sich in den juristischen Vorgang vom Obersten Gerichtshof eingeschaltet hat, als würde er grundsätzliche Rechte der Angeschuldigten und ihre Verteidigerrechte wahren wollen, die vom Nationalen Gerichtshof (Sondergericht) übergangen wurden. Doch damit war schnell Schluss. Llarena verhält sich nun noch politischer als das Sondergericht, wie sich zeigt. Er lässt sich wie das politisierte und von Anhängern der regierenden Volkspartei (PP) dominierte Verfassungsgericht, ganz in die Strategie der Unionisten einspannen.

Da wundert es nicht, wenn der spanische Justizminister diese Tage auch schon ankündigt hat, dass Leute wie Forn, der inhaftierte ehemalige Vizeministerpräsident Oriol Junqueras und Sànchez schon im März ein Amtsverbot erhalten würden. Das wird normalerweise erst in einem Urteil festgelegt und umgesetzt, wenn alle Instanzen durchlaufen wurden. Doch die Regierung will Leute wie Puigdemont und Junqueras schon präventiv über den Richter Llarena ausschalten und den Wählerwillen bei den aus Spanien angesetzten Zwangswahlen weiter verbiegen.

Bisher tut sie das sehr deutlich darüber, dass die Amtseinführung von Puigdemont mit juristischen Tricks verhindert wird, obwohl der auch nach Ansicht des Verfassungsgerichts Kandidat sein kann. Doch man verhindert es in Madrid darüber, dass das Verfassungsgericht nicht entscheidet, ob die präventive Beschwerde der spanischen Regierung angenommen wird oder nicht. In einer klaren Rechtsumgehung hat das Gericht nun angekündigt, darüber sogar erst im März entscheiden zu wollen, um Puigdemont, das Parlament und die Katalanen in der Luft hängen zu lassen. Das Ziel ist, auftauchende Widersprüche im Unabhängigkeitslager zuzuspitzen.

Auf diesen Trick sollten die katalanischen Unabhängigkeitsparteien nicht hereinfallen, die Einheit bewahren und die Internationalisierung der skandalösen Vorgänge vorantreiben. Denn dass man es mit politischen Gefangenen zu tun hat, die allein wegen ihrer Gesinnung im Knast sitzen, ist nun am Fall von Forn mehr als klar geworden. So spricht der Schweizer UNO-Experte Alfred de Zayas schon von einer "Verschwörung des Schweigens in der EU" über die Vorgänge in Katalonien. Das "Schweigen in Brüssel ist ohrenbetäuben" erklärt der Experte. "Mit der Verhinderung, dass die Katalanen ihre Meinung ausdrücken können", erklärt er mit Blick auf das Referendum am 1. Oktober, "werden viele Artikel des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte verletzt."

Die Fälle der politischen Gefangenen werden nun vor die UNO gebracht. Eine Arbeitsgruppe der Weltorganisation für willkürliche Inhaftierungen soll sie prüfen. Der bekannte Anwalt Ben Emmerson wird sie vertreten: "Ihre Inhaftierung durch Spanien ist ein Affront gegen die Menschenrechte und hat zum Ziel, sie daran zu hindern, ihre Rolle als politische Vertreter des katalanischen Volkes zu erfüllen", sagte Emmerson am letzten Donnerstag.