Technische Schulden entstehen einfach so

Kaum eine Metapher ist wichtiger für Softwareentwicklung als "technische Schulden". Aber sie hat leider einige Schwächen. Vor allem gehen Teams meistens die Schulden nicht bewusst ein.

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Von
  • Eberhard Wolff
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Kaum eine Metapher ist wichtiger für Softwareentwicklung als "technische Schulden". Aber sie hat leider einige Schwächen. Vor allem gehen Teams meistens die Schulden nicht bewusst ein.

Wie gut die Qualität des Codes einer Anwendung ist, können Benutzer oder Projektleiter kaum erkennen. Schließlich merken nur Entwickler, ob der Code besonders einfach geändert werden kann oder nicht. Leider ist das Spiel mit der Qualität aber gefährlich, denn schlechte Qualität bringt im Extremfall ein Projekt zum vollständigen Stillstand. Technische Schulden sollen als Metapher das Problem mit der Qualität besser vermittelbar machen. So können Benutzer oder Projektleiter besser verstehen, warum nicht jedes Feature schnell mal so implementiert werden sollte.

Wikipedia beschreibt technische Schulden folgendermaßen: Ein Team, das in einem Softwareprojekt ohne besondere Rücksicht auf die Qualität Code sofort in Produktion bringt, liefert erst mal schneller. Dafür baut das Team aber Schulden auf. Genau wie bei Geldschulden müssen Zinsen gezahlt werden: Die Produktivität sinkt, denn die schlechte Codequalität hält das Team auf. Diese Beschreibung passt gut zu der Metapher: Wer einen Kredit aufnimmt, baut Schulden auf, um sich etwas schneller zu kaufen und muss die Schulden später mit Zinsen zurückzahlen.

Ursprünglich hat Ward Cunningham die Metapher der technischen Schulden aus der OOPSLA-Konferenz 1992 eingeführt. Er erklärt auf YouTube den Begriff anders: Code repräsentiert immer das aktuelle Verständnis des durch die Software gelösten Problems. Wenn das Team Neues lernt, dann muss der Code durch Refactorings konsolidiert werden, sodass das Gelernte optimal repräsentiert ist. Wenn die Refactorings unterbleiben, entstehen technische Schulden und der Code ist schwieriger zu ändern. Cunningham schließt explizit aus, dass das Teams bei der Qualität Kompromisse macht und widerspricht damit eindeutig dem Wikipedia-Artikel. Das Team baut keine Schulden auf, sondern die Schulden entstehen unwillkürlich.

Martin Fowler hat eine andere Perspektive: Entweder das Projekt ist umsichtig (prudent) und trifft Entscheidungen über die Qualität oder es geht so rücksichtslos (reckless) vor, dass es die Qualität nicht beachtet. Außerdem geht das Team bewusst (deliberate) einen Qualitätskompromiss ein oder technische Schulden entstehen unbeabsichtigt (inadvertent). Aus den Eigenschaften umsichtig/ ücksichtlos auf der einen Seite und bewusst/unbeabsichtigt auf der anderen Seite entstehen vier Quadranten. Der Wikipedia-Definition entspricht umsichtig/bewusst: Das Team kennt die Qualität (umsichtig) und trifft bewusst die Entscheidung, einen Qualitätskompromiss einzugehen. Cunninghams Erklärung ist umsichtig, weil das Team die Qualität kennt, aber die technischen Schulden entstehen nicht bewusst, sondern unbeabsichtigt, weil das Team lernt und der Code das Gelernte noch nicht abbildet.

Meiner Meinung nach gibt es noch eine weitere Quelle technischer Schulden: der technische Fortschritt. Neue Architekturen und Technologien machen das alte Vorgehen obsolet. Wenn der Code nicht passend aktualisiert wird, entstehen technische Schulden. Auch das ist unbeabsichtigt, weil es sich nicht verhindern lässt.

Das Wichtigste an technischen Schulden ist aber, wie man mit ihnen umgeht. Kein System ist perfekt. Es gibt immer etwas zu optimieren. Das bedeutet, dass Teams praktisch unbegrenzt optimieren können. Wenn das Team durch eine Optimierung keine Verbesserung der Produktivität erwartet, die mehr bringt, als die Optimierung an Aufwand kostet, dann sollte die Optimierung unterbleiben. Dafür können Investitionen eine gute Metapher sein. Die Qualität ist kein Ziel an sich, sondern nur ein Mittel für bessere Produktivität. Auch bei diesem Vorgehen hat die Metapher der technischen Schulden einen Vorteil: Die Qualitätskompromisse können problematisch sein, weil sie für Benutzer oder Projektleiter nicht leicht zu erkennen sind und zum Stillstand des Projekts führen können. Der Begriff "technische Schulden" stellt genau das dar.

Technische Schulden sind eine Metapher für die Qualität in Softwareprojekten mit einigen Schwächen und unterschiedlichen Interpretationen. Am wichtigsten ist jedoch, wie Teams mit den technischen Schulden umgehen. ()