Genie des Agenda-Settings

Bild: gemeinfrei

Vor vier Jahren starb Frank Schirrmacher - heute ist der Zeitungs-Journalismus am Ende

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Jeder weiß, wie man ein Smartphone bedient; die politische Frage lautet umgekehrt: wie man verhindert, dass man vom Smartphone bedient wird.

Der letzte Satz des letzten Artikels von Frank Schirrmacher in der FAZ

Am 12. Juni 2014 starb Frank Schirrmacher - sein Tod markiert das Ende einer Ära, und vier Jahre nach seinem Tod ist nichts mehr übrig geblieben von dem, was Zeitungs-Journalismus vor vier Jahren noch war.

Spieler und Provokateur

Es gibt zwei Dinge, die eine Zeitung interessant machen, und über andere Medien herausheben: Dass sie viele und gute Auslands-Korrespondenten hat, und dass sie in der Lage ist Themen zu setzen und Debatten auszulösen.

Genau dies beides war die Stärke der Faz unter ihrem Herausgeber Schirrmacher und dessen ganz persönliches Talent: Schirrmacher wusste, dass es für die Faz wichtiger ist, sich einen Kulturkorrespondenten in Venedig oder Peking zu leisten, als die Auflage um ein paar Prozentpunkte zu steigern.

Ein halbes Jahr nach Schirrmachers Tod wurde der kommissarische Nachfolger als Faz-Herausgeber, Günther Nonnenmacher gefragt, ob die Faz nicht dringend eine Galionsfigur wie Schirrmacher brauche. Die Antwort Nonnenmachers die das ganze Mittelmaß dieser einstigen elitären Zeitung verdeutlichte war: "Hat Frank Schirrmacher, der wirklich ein berühmter Mann war, die Auflage der Faz steigern können? Kamen wegen ihm mehr Anzeigen?"

Inzwischen geht die Auflage deutlich zurück, inzwischen hat die Faz ihr Tafelsilber, die Societätsdruckerei und das Verlagsgrundstück in Frankfurt verkauft. Man versucht sich hilflos darin, mit teuren Versuchsballons wie "FAZ Quarterly" und "FAZ Weekly" Anzeigenkunden zu gewinnen - und bereitet doch mittelfristig den Abschied vom Print in die digitale Welt vor. Kürzungen in der Redaktion, Entlassungen, die Streichung von Korrespondentenstellen schönen kurzfristig die Bilanz. Aber das Ende kommt näher.

Wichtiger für die ganze Republik und das intellektuelle Klima des Landes ist der Verlust von Schirrmacher als einem der wichtigsten öffentlichen Intellektuellen. Vor allem war Schirrmacher ein Genie des Agenda-Settings. Frank Schirrmacher setzte Probleme, stellte Fragen, schuf Debatten und vor allem fand einen Weg, Themen in die Köpfe und Herzen der Leser zu verankern.

Ihm gelang es wie nur ganz wenigen, immer wieder mit seinen Ideen die "Kulturelle Hegemonie" (Antonio Gramsci) zu erobern: Unvergessen ist der Abdruck des entschlüsselten menschlichen Genom im Faz-Feuilleton am 27. Juni 2000 - seitenlang las man nur die Kombination der vier Buchstaben ACG und T.

Schirrmacher war ein Provokateur. Ja auch vielleicht manchmal ein zynischer oder jedenfalls leichtfertiger Spieler, ein Joker wie Trump, der den trägen Laden endlich aufmischen wollte, auch wenn der Preis dafür hoch war.

Aber dieses Flackernde, Irrlichternde, Besessene, Aufgeregte, Getriebene, Antreibende hatte tiefen Sinn, weil er damit seine Themen antrieb. Und es hatte zeitdiagnostische Substanz: Das "Methusalem-Komplott", der Bestseller über den bevorstehenden Konflikt (Schirrmacher schreibt reißerisch "Krieg") zwischen Alten und Jungen, in dem wir heute mittendrin stehen, obwohl es immer noch nicht alle wahrhaben wollen.

Sein eigentliches Thema aber war die entfesselte Ökonomie ("ein Monster") und die Gefahren des von diesem Monster versklavten neuen Informationszeitalters - und heute kann man sagen, dass alle seine Warnungen noch übertroffen wurden.

Welt der Doppel-Standards

Es gibt Sätze, die sind falsch. Und es gibt Sätze, die sind richtig. Schlimm ist, wenn Sätze, die falsch waren, plötzlich richtig werden.

Frank Schirrmacher

In einem seiner wichtigsten Texte unter dem Titel "Ich beginne zu glauben, dass die Linke recht hat", formuliert Schirrmacher in der FAS am 14.08.11 eine Fundamentalkritik an der Politik der CDU/CSU der letzten Jahrzehnte:

Es war ja nicht so, dass der Neoliberalismus wie eine Gehirnwäsche über die Gesellschaft kam. Er bediente sich im imaginativen Depot des bürgerlichen Denkens: Freiheit, Autonomie, Selbstbestimmung bei gleichzeitiger Achtung von individuellen Werten, die Chance, zu werden, wer man werden will, bei gleichzeitiger Zähmung des Staates und seiner Allmacht.

Und gleichzeitig lieferte ihm die CDU ihren größten Wert aus: die Legitimation durch die Erben Ludwig Erhards, das Versprechen, dass Globalisierung ein Evolutionsprodukt der sozialen Marktwirtschaft wird. Ludwig Erhard plus AIG plus Lehman plus bürgerliche Werte - das ist wahrhaft eine Killerapplikation gewesen.

Frank Schirrmacher

Entstanden sei eine Welt des Doppel-Standards, in der aus ökonomischen Problemen unweigerlich moralische Probleme werden. Darin, so Schirrmacher, "liegt die Explosivität der gegenwärtigen Lage, und das unterscheidet sie von den Krisen der alten Republik".

Schirrmacher formulierte in seinem Text neben bürgerlicher Selbstkritik, einem Angriff auf den Neoliberalismus und Sympathien für linke Gesellschaftskritik auch Gedanken, die jener Wutbürger-Stimmung ähneln, aus deren Gärung dann bald auch die AfD und Rechtsextremisten hervorblubberten.

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