Prickelnd: ASMR auf Rezept

Eine Studie hat untersucht, ob das angenehme Kribbeln der Autonomous Sensory Meridian Response messbare Auswirkungen auf Körper und Geist hat. Der “Gehirn-Orgasmus“ könnte als Therapie bei Depressionen und Schlafmangel dienen.

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Prickelnd: ASMR auf Rezept

(Bild: "Goose bumps" / EverJean / cc-by-2.0)

Lesezeit: 5 Min.
Von
  • Gregor Heppel
Inhaltsverzeichnis

ASMR steht für „Autonomous Sensory Meridian Response“ und wird umgangssprachlich auch als „Gehirn-Orgasmus“bezeichnet. Es beschreibt das Phänomen eines angenehmen Kribbelns, das sich von der Kopfhaut über den Nacken und weiter in den Körper ausbreitet. Ausgelöst wird es durch verschiedene audio-visuelle Erlebnisse: Flüstern, ruhige und leise Stimmen, die Nähe und Aufmerksamkeit eines anderen Menschen.

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Bewusste Nutzer beschreiben ASMR als entspannend und nutzen es zur Beruhigung und zum Einschlafen. Oft haben sie das Kribbeln erstmals in der Kindheit oder Pubertät in alltäglichen Situationen gespürt: beim Friseur, oder beim Anschauen bestimmter Fernsehsendungen wie der des US-amerikanischen Malers Bob Ross.

Im Netz gibt es längst eine große ASMR-Gemeinschaft. Dort steht der Begriff nicht mehr nur für das Symptom, sondern auch stellvertretend für eine Gattung von Videos und Podcasts, die ASMR-„Trigger“, Auslöser, beinhalten. Im Auftrieb sind diese Videos laut Google Trends seit 2012. Die Suchanfragen kommen unverhältnismäßig häufig aus Südkorea, viele aber auch aus Europa und Amerika. Auf YouTube finden sich Millionen ASMR-Videos, ganze Subgenres haben sich gebildet.

So sind Rollenspiele wie Arztuntersuchungen sehr beliebt, Massagen, das ausgedehnte Falten von Handtüchern, und sogar Essensgeräusche. Man kann sich von Salma Hayek und Margot Robbie bezirzen oder zum Urlaub auf fernen Planeten überreden lassen. ASMR ist kein exklusives Phänomen des digitalen Zeitalters, Plattformen wie YouTube haben aber wohl entscheidend dazu beigetragen, es bekannter zu machen.

Eine Gruppe von Forschern um die Psychologin Giulia Poerio von der Sheffield University in England hat kürzlich in einer Studie empirisch untersucht, ob ASMR tatsächlich konsistent auftritt und ob es messbare physiologische und psychologische Effekte hat. Damit wollten die Forscher die bisher sehr spärliche ASMR-Forschung befeuern und eine Anwendung als Entspannungstherapie vorschlagen. ASMR wurde bisher kaum wissenschaftlich untersucht, die wenigen veröffentlichten Studien konzentrierten sich auf die audio-visuellen Auslöser, die Verwendungszwecke von ASMR-Videos oder das Alter, ab dem Menschen das Phänomen das erste Mal erfahren (ab fünf bis zehn Jahren).

In einer ersten nicht-repräsentativen Online-Befragung mit knapp 1000 Teilnehmern wollten die Forscher um Poerio zunächst herausfinden, ob ASMR tatsächlich konsistent auftritt, und ob jeder oder nur eine bestimmte Gruppe von Menschen das Phänomen erfährt. Dazu schauten die Teilnehmer drei Videos an und sollten beschreiben, wie sie sich fühlten. Zwei der Videos waren typische ASMR-Videos mit audio-visuellem Auslöser, wie man sie zuhauf auf YouTube findet. Das dritte Video enthielt keine Auslöser und diente der Validierung. Das Ergebnis bestätigte die Annahme, dass ASMR-Videos funktionieren. Viele Teilnehmer spürten bei diesen Videos deutlich öfter Kribbeln und fühlten sich entspannter und ruhiger. Andere Teilnehmer spürten keinerlei Unterschied zwischen den Videos, was die These bestätigt, dass nicht jeder ASMR-fähig ist.

Eine zweite Studie untersuchte die physiologischen und psychischen Auswirkungen von ASMR auf die Teilnehmer. Dazu wurden 110 Teilnehmer im Alter von 18 bis 59 Jahren befragt, die Hälfte war nach eigenen Angaben empfänglich für ASMR, die andere nicht. Die Teilnehmer schauten erneut drei Videos, wovon zwei ASMR-Auslöser enthielten. Diesmal wurden Puls und elektrodermale Aktivität gemessen. Letztere wird etwa bei Lügendetektoren genutzt und gilt als ein Anzeichen für emotionale Erregung.

Erneut wurde bestätigt, dass ASMR nicht bei jedem auftritt. Wenn es aber auftrat, waren die Teilnehmer ruhiger und entspannter, teilweise auch gleichzeitig aktiver und aufgeweckter. Zu diesem eigentlichen Widerspruch heißt es in der Studie, dass viele Emotionen gegensätzliche Reaktionen zeigten, Nostalgie sei etwa eine Mischung von Glücklichkeit und Traurigkeit. Dies bescheinige ASMR eine gewisse emotionale Komplexität.

Auch die physischen Messwerte zeigten deutliche Unterschiede: Die elektrodermale Aktivität war höher, die Patienten waren also emotional erregter. Gleichzeitig lag der Herzschlag um mehr als drei Schläge pro Minute niedriger.

Was zunächst nicht besonders beeindruckend klinge, sei vergleichbar oder sogar wirkungsvoller als andere etablierte Therapiemethoden, schreiben die Forscher. Sie hoffen, dass durch diese Ergebnisse die ASMR-Forschung endlich ins Rollen gebracht werde. Die vielen ASMR-Videos könnten eines Tages gezielt als anerkannte Therapien gegen Depressionen und Schlafmangel genutzt werden. Bis es soweit ist kann sich jeder auf gut Glück dem „Gehirn-Orgasmus“ unterziehen; die Empfänglichkeit für ASMR vorausgesetzt.

(anwe)