Missing Link: Der Fluch der Feuerwaffen, oder: Von Fußball-Robotern und kanadischen Ureinwohnern

Der bewegendste Moment beim RoboCup blieb unerwähnt. Warum eigentlich? Anmerkungen zu historischer Schuld, neutraler Technik und bewaffneten Robotern.

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Elektronisches Auge, Roboter, KI, Künstliche Intelligenz

(Bild: intographics, gemeinfrei)

Lesezeit: 10 Min.
Von
  • Hans-Arthur Marsiske
Inhaltsverzeichnis

In Kanada und Australien ist es seit einer Weile üblich, bei der Eröffnung großer, internationaler Veranstaltungen einen Vertreter der Ureinwohner sprechen zu lassen. Die Teilnehmer sollen daran erinnert werden, wem das Gebiet, in dem sie sich versammeln, ursprünglich gehörte.

Ich wusste nichts von diesen Gepflogenheiten und war daher nicht vorbereitet auf das "Ceremonial Blessing", das Kevin Ka‘nahsohon Deer bei der Eröffnung des RoboCup in Montréal gab. Als Elder der Mohawk Nation begrüßte er die Versammelten mit den Worten: "Welcome to my territory." Er sagte einige Worte in seiner Sprache, betonte die Bedeutung der Natur, kritisierte den fehlenden Nährwert von Geld und beendete die Zeremonie mit einem Lied, das in einen Wechselgesang mit dem Publikum mündete.

Das alles geschah mit völliger Selbstverständlichkeit. Dies war keine weichgespülte Touristenshow, die den Besuchern einen leicht verdaulichen, gefälligen Einblick in das Indianerleben vermitteln sollte, sondern ein ernsthafter, würdevoller Vortrag, voller Energie und ohne jede Spur von Karl-May-Romantik.

"Missing Link"

Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.

Ich hatte das Bedürfnis, mich persönlich bei Kevin für die Ansprache zu bedanken, und ging gleich nach der Eröffnungsveranstaltung zu ihm. Was ich sagen wollte, hatte ich mir vorher nicht überlegt. So sprudelten die Worte ungefiltert aus mir heraus. In holprigem Englisch erklärte ich, dass ich mich als Europäer verantwortlich fühlte für die Verbrechen, die europäische Einwanderer den amerikanischen Ureinwohnern angetan haben. Die ganze Welt leide noch immer unter den Folgen dieser Taten, aber das Bewusstsein darüber sei so furchtbar schwach ausgeprägt. Als ich das sagte, spürte ich zu meiner eigenen Überraschung, dass ich kurz davor war, in Tränen auszubrechen. Kevin sah das offenbar auch, kam auf mich zu, umarmte mich und hieß mich noch einmal in seinem Gebiet willkommen.

Noch Wochen später denke ich immer wieder an diese kurze, aber sehr intensive Begegnung, die im Rückblick für mich der bewegendste Moment des gesamten RoboCup war. Und ich rätsele darüber, warum sie keinen Eingang fand in die täglichen Berichte, die ich über das Roboterturnier verfasste. Obwohl ich das starke Bedürfnis hatte, davon zu erzählen, schien diese Begebenheit nie so richtig zu passen.

Das hatte zunächst einmal natürlich mit dem Wettbewerbscharakter der Veranstaltung zu tun. Die teilnehmenden Teams wollten sich darauf konzentrieren, ihre Systeme zu optimieren, um die Herausforderungen der nächsten Tage möglichst erfolgreich zu bestehen. Gedanken zu vergangenen, mehrere Jahrhunderte zurückliegenden Geschehnissen konnten da nur stören.

Aber das ist es nicht allein. Auch zwei Monate nach dem Wettbewerb erschließt sich nicht ohne Weiteres, was die blutige Geschichte europäischer Expansion mit der Entwicklung intelligenter Roboter, die Fußball spielen, in Haushalt und Fabrik helfen oder Rettungseinsätze unterstützen, zu tun haben könnte. Die Vergangenheit der durch europäische Eroberer verübten Völkermorde und des über Jahrhunderte in industriellem Maßstab betriebenen Sklavenhandels gilt gemeinhin als abgeschlossen. Die geschichtliche Kontinuität scheint auf wundersame Weise an irgendeinem nicht näher bestimmbaren Punkt unterbrochen worden zu sein.

(Bild: Public Domain)

Was geschehen sei, sei bedauerlich, heißt es etwa, lasse sich aber nun mal nicht ungeschehen machen. Außerdem, so ein weiteres, häufig geäußertes Argument, hätten damals andere moralische Maßstäbe gegolten. Die Sklavenhändler seien sich der Unrechtmäßigkeit ihrer Handlungen ebenso wenig bewusst gewesen wie die europäischen Siedler, die ihre waffentechnische Überlegenheit rücksichtslos einsetzten, um Ureinwohner aus dem Weg zu räumen. Zudem hätten ja Afrikaner selbst die Sklaven eingefangen, die sie dann an die europäischen Händler verkauften. Aber diese Zeiten seien ja gottlob vorbei und hätten einem friedlich vereinten Europa mit klar geregelten, weitgehend fairen Geschäftspraktiken Platz gemacht.

Doch wie fair können wirtschaftliche Beziehungen sein, die aus vorangegangenen Raubzügen hervorgegangen sind? Geldwäsche gilt als Straftatbestand. Drogen-, Waffen- und Menschenhändler werden nicht plötzlich zu unbescholtenen Bürgern, bloß weil sie ihr kriminell erworbenes Vermögen in legale Kanäle umleiten. Sie bleiben Kriminelle.

Das gilt ebenso für Staaten und staatlich sanktionierten Drogen-, Waffen- und Menschenhandel, wie er im Rahmen des atlantischen Dreieckshandels von europäischen Kaufleuten auf ein globales Niveau gehoben und jahrhundertelang betrieben wurde. Seinen Wohlstand und seine wirtschaftliche Stärke verdankt Europa in erster Linie diesen mörderischen Praktiken. Es ist ein gewaschener Wohlstand. Zwar gibt es keine Institution, die den Kontinent dafür juristisch belangen könnte. Moralisch jedoch verjähren solche Verbrechen nie. Der Makel wird bleiben, solange Europa sich seiner blutigen Vergangenheit nicht stellt und ernsthafte Konsequenzen daraus zieht.

Dabei geht es nicht allein um wirtschaftliche Beziehungen. Die Geschichte der europäischen Eroberungen hat auch die Technik selbst nachhaltig geprägt. Schließlich spielte Technik, insbesondere die der Feuerwaffen, bei diesen Eroberungen eine zentrale Rolle.

Gerhard W. Kramer verdanke ich den Gedanken, dass mit der Kanone die erste Wärmekraftmaschine geschaffen wurde. "Die chemische Bindungsenergie der Treibladung wird in die kinetische des Geschosses umgesetzt. Dieses wird in einem einmaligen Vorgang beschleunigt und als Kolben in einem Zylinder ausgestoßen", schreibt er in seinem 1995 erschienenen Buch Berthold Schwarz – Chemie und Waffentechnik im 15. Jahrhundert. Ohne die Kenntnis dieses Prinzips seien "technische Entwicklungsprozesse vom 17. bis ins 19. Jahrhundert undenkbar".

Zwar erwies sich das Schießpulver als ungeeignet, eine regelmäßige, sich wiederholende Bewegung zu erzeugen. Doch die Umwandlung von Feuerkraft in Bewegungsenergie war mit der Kanone erstmals gelungen und inspirierte die weitere Entwicklung, die schließlich zu Dampfmaschine und Verbrennungsmotoren führte.

Zugleich überwand die Waffentechnologie mit der Kanone die Begrenzungen des menschlichen Körpers. Bis dahin waren alle Waffen durch Körperkraft bewegt worden, Schwert und Speer ebenso wie Pfeil und Bogen. Auch die Armbrust musste vom Schützen erst gespannt werden, bevor sie abgefeuert werden konnte. Mit dem Schießpulver jedoch wurde erstmals eine externe Energiequelle genutzt, um das Projektil auf den Gegner zu schleudern. Das setzte einen Rüstungswettlauf in Gang, der die Menschheit seit mittlerweile fast 700 Jahren vor sich her treibt.