Eine kleine Geschichte der Aufmerksamkeit

Überarbeitet, abgelenkt, unaufmerksam? Seit 1710 weiß ein jeder, was damit gemeint ist.

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Lesezeit: 5 Min.
Von
  • Peter Glaser

Das Internet umgibt und mit einer opulenten Fülle an Ablenkungen – Texte, Mails, Status-Neuigkeitenkonfetti in den sozialen Medien, Musik-Streaming, Videos, Nachrichten und noch mehr Nachrichten. Abschalten ist schwierig, Stichwort FOMO ("Fear Of Missing Out"), der modernen Angst, etwas zu verpassen. Die Geschichte zeigt, dass die resultierende Unruhe aber nicht durch die jeweils nächste Neuigkeit geschürt wird.

Unaufmerksamkeit wurde im Europa des 18. Jahrhunderts als soziale Bedrohung angesehen. Aufklärung, Logik und Wissenschaft kämpften damals gerade gegen Unbegründetes an. Das Oxford English Dictionary zitiert einen Eintrag aus dem Jahr 1710, in dem das Wort Unaufmerksamkeit erstmals erwähnt und mit Trägheit verbunden wird – beides moralische Verfehlungen, über die man sich öffentlich Sorgen machte. Moralisten sahen darin auch die Quelle anderer Laster. 1770 ortete der schottische Philosoph James Beattie Unaufmerksamkeit als Ursprung "krimineller Gewohnheiten", welche die moralischen Fähigkeiten herabsetzen. Er behauptete, dass "wir viele schlechte Gewohnheiten angenommen haben, die wir mit der richtigen Aufmerksamkeit hätten vermeiden können" und warnte davor, dass sie die soziale Ordnung untergraben würden. "Ich kenne keine beleidigendere Sache, als Unaufmerksamkeit und Ablenkung", schrieb Philip Dormer Stanhope, Graf von Chesterfield, 1746 an seinen Sohn.

Der Aufklärung galt Aufmerksamkeit als die wichtigste geistige Fähigkeit zur Ausübung der Vernunft. Ende des 18. Jahrhunderts wurde Aufmerksamkeit auch als ein Medium der Erziehung sowie der spirituellen und moralischen Entwicklung wahrgenommen. Der französische Philosoph Claude Adrien Helvétius betrachtete sie als eine Quelle der Erleuchtung, zugleich lehnte er das moralische Kontrollritual ab, Unaufmerksamkeit ständig als Verbrechen darzustellen. Der Unachtsamkeit von Kindern und Jugendlichen entgegenzuwirken, wurde zum zentralen Anliegen der Pädagogik.

Erzieher, religiöse Kommentatoren und Mediziner schürten die Ängste vor den sittlichen Folgen der Unaufmerksamkeit weiter und stellten sie als moralische Krankheit dar. In seinem medizinischen Lehrbuch von 1775 diagnostizierte der deutsche Arzt Melchior Adam Weikard)$ den Zustand dessen, was er "Aufmerksamkeitslosigkeit" (Attentio Volubilis) nannte. Unaufmerksame Menschen wurden als "sorglos, flüchtig und bacchanal" charakterisiert und als unreif, rücksichtslos und unzuverlässig dargestellt. Im Lauf des 19. Jahrhunderts wurde die Unaufmerksamkeit tiefgehend moralisiert und als Bedrohung für den industriellen und wissenschaftlichen Fortschritt wahrgenommen, um schließlich sogar als ein Symptom für Rassendegeneration herhalten zu müssen. 1895 warnte Max Nordau: "Unbehütet und hemmungslos ist die Hirnaktivität des Entarteten und Hysterischen, launisch und ohne Ziel und Zweck."

Noch bis in die 1970er-Jahre, als die Aufmerksamkeitsdefizitstörung (ADD) als medizinisches Handicap Eingang in die Umgangssprache fand, wurde Unaufmerksamkeit tendenziell als Mangel an moralischer Kontrolle dargestellt. In den letzten Jahrzehnten erlebte das Konzept einen dramatischen Wandel. Während sie im 18. Jahrhundert als abnorm wahrgenommen wurde, wird Unaufmerksamkeit heute oft als Normalzustand dargestellt, das gegenwärtige Zeitalter als Ära der Ablenkung bezeichnet und Unaufmerksamkeit nicht länger als ein Zustand dargestellt, der nur einige Menschen betrifft. Die Erosion der menschlichen Aufmerksamkeitsfähigkeit gilt nunmehr als existenzielles Problem, verbunden mit den angeblich korrodierenden Auswirkungen digital gesteuerter Informationsflüsse. "Das Netz absorbiert unsere Aufmerksamkeit, nur um sie zu zerstreuen", behauptete Nicholas Carr 2010.

Die moralischen Bedenken gegen die Unaufmerksamkeit lauern immer noch im Hintergrund. Dass sie im 18. Jahrhundert entdeckt wurde, ist nicht überraschend – die intellektuelle Grundströmung des Zeitalters lehnte die traditionellen "heiligen Wahrheiten" ab. Oft wird Unachtsamkeit als polares Gegenteil von Aufmerksamkeit dargestellt, obwohl es eher darum geht, dass Menschen sich nicht für das interessieren, was Autoritäten als legitimen Fokus der Aufmerksamkeit darstellen. Darin drückt sich die Angst aus, dass den falschen Texten oder kulturellen Praktiken zu viel "falsche" Aufmerksamkeit geschenkt würde. Darauf weist die MIT-Professorin Sherry Turkle hin, die menschliche Beziehungen in der Online-Welt untersucht.

Ein – vermeintliches – Zeitalter der Ablenkung hängt mit der unsicheren Antwort auf die Frage "Aufmerksamkeit für wen oder was?" zusammen. Bei Kindern und Jugendlichen haben verdeckte Ängste um moralische Autorität durch Fetisch-artige technologisch gesteuerten Ablenkung inzwischen zwar geradezu pathologische Ausmaße angenommen. Besonnene Beobachter nehmen jedoch wahr, dass Kinder, die ihrem Lehrer gegenüber unaufmerksam sind, oft aufmerksam auf die Textnachrichten reagieren, die sie erhalten. Die ständige Klage über die unaufmerksame Jugend könnte als ein Symptom im Zusammenhang mit der Ausübung erwachsener Autorität interpretiert werden.

Oft wird die fehlende Fähigkeit, das Vorstellungsvermögen junger Menschen zu inspirieren, auf deren vorgeblich unaufmerksamen Geisteszustand zurückgeführt. So sind etwa Aufrufe, das Bildungsumfeld so zu verändern, dass es "zu den Studenten passt", in der Hochschulbildung weit verbreitet.

Der Moralphilosoph Dugald Stewart beschäftigte sich bereits 1793 ebenfalls mit dem Problem des unaufmerksamen Studenten. Stewart vertrat die Auffassung, dass das Problem der Unaufmerksamkeit durch moralische Erziehung überwunden werden könne. Anders als zeitgenössische Akademiker betrachtete er die "frühe Gewohnheit der Unaufmerksamkeit" als ein zu lösendes Problem und nicht als eine unabänderliche Existenzbedingung. Er glaubte fest daran, dass jeder das Potenzial hätte, "anhaltende Aufmerksamkeit" zu erlangen und einen "Triumph über die Trägheit" davonzutragen. Bedauerlicherweise ist der Optimismus einer gegenwärtig resignativen Stimmung gewichen. Aufmerksamkeit wird nach wie vor als wünschenswerte Fähigkeit angesehen, die aber kaum zu erreichen sei. Im Tonfall düsterer kulturpessimistischer Bewölkung sei "eine epidemische Erosion der Aufmerksamkeit ein sicheres Zeichen für ein bevorstehendes finsteres Zeitalter".

(bsc)