Dieser Chirurg will Ihr Gehirn mit dem Internet verbinden

Eric Leuthardt arbeitet daran, die Kommunikation der Nervenzellen im Detail zu entschlüsseln. Sein Ziel: die erste praktikable Gehirn-Computer-Schnittstelle.

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Dieser Chirurg will Ihr Gehirn mit dem Internet verbinden

(Bild: Whitten Sabbatini)

Lesezeit: 9 Min.
Von
  • Adam Piore
Inhaltsverzeichnis

An einem Montagmorgen steht Eric Leuthardt in einem hell erleuchteten Operationssaal und beugt sich über den bewusstlosen Patienten. Während der Neurochirurg auf der rasierten Kopfhaut markiert, wo er operieren will, unterhält er sich mit einem Kollegen über den Film "Blade Runner 2049", die Fortsetzung des Science-Fiction-Klassikers. Im Mittelpunkt stehen wiederum sogenannte Replikanten, die aussehen wie echte Menschen. "Sie haben das dystopische Element gut eingefangen und reden viel über die Biologie der Replikanten", sagt Leuthardt. "Aber sie haben große Bereiche der Zukunft ausgelassen. Wo sind zum Beispiel die neuronalen Prothesen? Was ich so interessant finde, ist, dass Zukunftsvisionen ständig von fliegenden Autos handeln."

Der Mittvierziger Leuthardt hat sich intensiv mit Gehirnprothesen beschäftigt. So hat er neben seiner Arbeit an der Washington University in St. Louis zwei Romane und ein Theaterstück geschrieben. In seinem Techno-Thriller "RedDevil 4" haben sich zum Beispiel 90 Prozent der Menschen entschieden, Computer-Hardware in ihr Gehirn einpflanzen zu lassen. Das erlaubt ihnen eine drahtlose Verbindung zu anderen Menschen und Maschinen. Außerdem ermöglicht es ihnen sensorische Erlebnisse, ohne dass sie das Haus verlassen müssen. Leuthardt glaubt, solche Implantate werden in den kommenden Jahrzehnten so alltäglich sein wie plastische Chirurgie oder Tätowierungen.

Doch Leuthardt ist keineswegs einer dieser Visionäre, denen man vorwerfen kann, sich nicht mit den wissenschaftlichen Grundlagen auszukennen. Der Neurochirurg ist auf Patienten mit nicht medikamentös behandelbarer Epilepsie spezialisiert. Er implantiert den Betroffenen zunächst einige Tage vor dem eigentlichen Eingriff Gehirn-Elektroden, um die für die Anfälle verantwortliche Hirnregion zu identifizieren. Dabei entfernt Leuthardt ein Stück Schädeldecke und platziert die Messfühler direkt auf dem Gehirn, die zur Auswertung über Kabel mit einem Computer verbunden werden. Während sie überwacht werden, sind diese Patienten ans Bett gefesselt und langweilen sich oft.

Da kam Leuthardt vor rund 15 Jahren die Idee, solche Patienten als Probanden für seine Forschung zu gewinnen. Seither stellt er ihnen Aufgaben und analysiert währenddessen ihre Gehirnsignale. Dadurch will er herausfinden, wie das Gehirn Gedanken und Absichten codiert – und wie sich diese Signale zum Steuern von Geräten nutzen lassen könnten.

Das Knacken des Codes, über den die Neuronen untereinander und mit dem Körper kommunizieren, mit dem sie Bewegungen, Gefühle und Gedanken auslösen, gehört zu den schwierigsten Unterfangen der Neurowissenschaft. Unmöglich ist es aber nicht, wie ein Forscher schon vor Jahrzehnten zeigte: In den 1980er-Jahren bereitete der Ingenieur Apostolos Georgopoulos an der Johns Hopkins University in Baltimore den Weg für die heutigen Gehirn-Computer-Schnittstellen. Er identifizierte Gehirnzellen im motorischen Kortex, die vor bestimmten Bewegungen feuern. Seine Entdeckung war auch deshalb so bedeutend, weil er anhand der über Elektroden verfolgten Signale bereits Richtung und Intensität von Bewegungen vorhersagen konnte.

Georgopoulos konnte bei Versuchsaffen nicht nur prognostizieren, in welche Richtung sie den Joystick bewegen würden. Vielmehr konnte er auch die Geschwindigkeit der geplanten Bewegung im Voraus erkennen – und auch, wie sie sich verändern würde. In den 1990ern gelang Andrew Schwartz, einem Protegé von Georgopoulos, der Nachweis, dass Affen mithilfe von implantierten Elektroden tatsächlich einen Roboterarm mit Gedankenkraft kontrollieren und bewegen können. Die Forschung des heute an der University of Pittsburgh tätigen Wissenschaftlers inspirierte Leuthardt.

Allerdings erzeugen die von Georgopoulos und Schwartz verwendeten Mikroelektroden mit der Zeit Entzündungen und Vernarbungen. Leuthardt verwendet deshalb für seine Aufzeichnungen größere Elektroden. Sie arbeiten allerdings weniger genau, weil sie gleich Hunderte Neuronen auf einmal ableiten, und eignen sich daher nicht zur Steuerung von Prothesen.

Um die Genauigkeit zu verbessern, tat sich Leuthardt mit dem Informatiker Gerwin Schalk zusammen, der bei der Gesundheitsbehörde des Bundesstaats New York arbeitet. Sie machten schnell Fortschritte. Schalks Software arbeitet mit Mustererkennungsalgorithmen. Sie lässt sich darauf trainieren, die Aktivierungsmuster von Nervenzellgruppen zu erkennen, die mit einer bestimmten Aufgabe oder einem Gedanken in Verbindung gebracht werden. Innerhalb von wenigen Jahren konnten Leuthardts Patienten per Gedankensteuerung das Computerspiel "Space Invaders" spielen und dabei ein Raumschiff nach links und rechts bewegen. Sie lernten auch, auf einem Bildschirm einen Cursor in einem dreidimensionalen Raum zu bewegen.

2006 wurde das US-Militär auf die Forschung der beiden aufmerksam. Elmar Schmeisser vom Forschungsbüro der Armee fragte an, ob es möglich sei, in Gedanken gesprochene Wörter aus Gehirnsignalen zu decodieren. Als Science-Fiction-Fan träumte Schmeisser schon seit Längerem von einem Helm, der die Gedanken von Soldaten ableiten und drahtlos an den Kopfhörer anderer Kameraden senden kann.

Für seine Versuche rekrutierte Leuthardt zwölf Epilepsie-Patienten und zeigte ihnen jeweils 36 Wörter mit einfachen Konsonant-Vokal-Folgen wie "bet" (Wette), "bat" (Fledermaus), "beat" (Schlag oder Takt) und "boot" (Stiefel). Die Probanden sollten die Wörter erst laut und dann nur in Gedanken aussprechen. Anschließend wertete Schalks Software die Ergebnisse aus: Bei 50 bis 200 Elektroden, die pro Sekunde 1000 Messungen durchführen, muss das Programm eine schwindelerregende Menge an Variablen durchrechnen. Die Ergebnisse waren dennoch überraschend robust. Wie zu erwarten, waren beim Aussprechen eines Wortes Gebiete im motorischen Kortex aktiv, die dazu benötigte Gesichtsmuskeln ansteuern.

Zur exakt selben Zeit sprang auch der für das Sprachverstehen zuständige Bereich im benachbarten Hörkortex an. Bemerkenswerterweise waren ähnliche, wenngleich leicht verschiedene Gebiete beim Denken derselben Wörter aktiv. Trotz jahrelanger Verfeinerung der Algorithmen gelang es Schalks System jedoch nur in 45 Prozent der Fälle, die Wörter richtig zu identifizieren.

Leuthardt betont, dass er mit der schon jetzt vorhandenen Technik ein Implantat bauen könne, mit dem sich ein Computer benutzen und ein Cursor in alle drei Raumdimensionen bewegen ließe. Die Probanden könnten darüber auch Licht und Heizung allein kraft ihrer Gedanken an- und ausschalten. Sie könnten möglicherweise sogar künstlich erzeugte taktile Reize erkennen und Zugang zu einer rudimentären Umwandlung von gedachten Worten in geschriebenen Text erhalten. "Aber wie viele werden so ein Implantat jetzt wollen?", fragt sich Leuthardt. Schließlich sei der operative Eingriff riskant, die Lebensdauer des Implantats unsicher.

Zunächst beschränkt sich der Neurochirurg daher auf nichtinvasive Mensch-Maschine-Schnittstellen. Dazu hat er das Start-up NeuroLutions gegründet, das schon Investitionen von mehreren Millionen Dollar eingeworben hat. Entwickelt hat das Unternehmen ein Gerät für Schlaganfallpatienten. In den USA erleiden jedes Jahr 700000 Menschen einen Schlaganfall, und eine gelähmte Hand gehört zu den häufigsten motorischen Schäden. Das Gerät besteht daher aus Elektroden, die an der Kopfhaut befestigt werden und über eine sogenannte Orthese mit dem gelähmten Arm verbunden sind. Die Schnittstelle erkennt die neuronalen Signale, die beim Planen einer Bewegung entstehen, noch bevor sie den motorischen Kortex erreichen. Diese Planungssignale werden verstärkt und zur Steuerung der Orthese benutzt. Auf diese Weise können Patienten wieder eine eigenständige Kontrolle über den gelähmten Arm erlangen.

Leuthardt und Schalk haben dabei aber eine überraschende Entdeckung gemacht: Die Motorik der Patienten verbessert sich oft auch, nachdem die Orthese wieder entfernt wurde. Ihre Schnittstelle scheint also wie eine Initialzündung zu wirken, um die Bewegung neu zu lernen. Wie verlässlich die Verbesserungen auftreten, prüft derzeit eine klinische Studie an halbseitig gelähmten Probanden. Doch nichtinvasive Elektroden haben Nachteile.

Die Gehirnsignale können beim Durchqueren von Schädeldecke und Haut gestreut und gedämpft werden. Das erschwert es, sie zu detektieren und zu interpretieren. Für Schalk ist es daher "offensichtlich", dass in den nächsten fünf bis zehn Jahren Chips im Gehirn für die Rehabilitation jener Patienten zur Verfügung stehen werden, die einen Schlaganfall oder eine Wirbelsäulenverletzung erlitten haben oder an chronischen Schmerzen sowie anderen Erkrankungen leiden. Allerdings müsse dafür eine neue Gehirnscanner-Technik entwickelt werden, die sehr viel mehr Nervenzellen auf einmal auslesen könne.

Leuthardt selbst ist bereits zur nächsten Aufgabe vorgeprescht. Er wollte herausfinden, wie das Gehirn intellektuelle Konzepte über mehrere Gehirnareale hinweg codiert. Seine Ergebnisse hat er allerdings bisher noch nicht veröffentlicht. "Die volle Wahrheit ist: Wir versuchen immer noch, sie zu verstehen", räumt Leuthardt ein. Möglicherweise seien die Grenzen der zurzeit verfügbaren Technologien erreicht.

Wann und wo diese künftig überwunden werden, weiß man heute noch nicht. Aber Leuthardt glaubt fest daran. "Bei der Geschwindigkeit, mit der sich Technologie verändert, ist es vorstellbar, dass in 20 Jahren alles, was heute in einem Handy ist, in ein Reiskorn passt", sagt der Neurochirurg. "Das ließe sich minimalinvasiv in den Kopf einpflanzen und könnte alle für eine Gehirn-Computer-Schnittstelle nötigen Berechnungen leisten", ergänzt er. "Es wird passieren und hat das Potenzial, die Richtung der menschlichen Evolution zu verändern."

(bsc)