Geister-Teilchen gegen Atomwaffen

Neutrinos sorgten bisher als exotische Elementarteilchen vor allem für Aufregung unter theoretischen Physikern. In Zukunft könnten sie zur Überwachung von Atommächten dienen.

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Geister-Teilchen gegen Atomwaffen

(Bild: "A model of KamiokaNDE" / Jnn / cc-by-2.1 jp)

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Von
  • Wolfgang Richter

"Ich habe etwas Schreckliches getan. Ich habe etwas vorgeschlagen, was nie experimentell verifiziert werden kann." So soll der österreichische Physiker Wolfgang Pauli lamentiert haben, nachdem er 1930 die Existenz des Neutrinos postuliert hatte, um eine bestimmte Art radioaktiven Zerfalls zu erklären.

Er sollte Unrecht behalten. Allerdings mussten Forscher zum Nachweis erst gigantische Apparate bauen wie den Super-Kamiokande-Detektor in Japan, einen unterirdischen Stahltank mit 50.000 Tonnen hochreinem Wasser. Die Wechselwirkung der Neutrinos mit Materie ist nämlich so gering, dass in jeder Sekunde Billionen dieser Elementarteilchen mit nahezu Lichtgeschwindigkeit durch unsere Körper rauschen, ohne dass wir irgendetwas davon mitbekommen.

Neutrinos sind merkwürdige Gebilde: Bis vor einigen Jahren hat niemand damit gerechnet, dass diese "Geisterteilchen" jemals eine sinnvolle Aufgabe auf der Erde erfüllen könnten. Sie schienen vor allem dazu prädestiniert, den theoretischen Physikern ihre schönen Modelle kaputt zu machen. Es gibt mindestens drei Sorten, die sich in jede andere Sorte umwandeln können.

Dieses merkwürdige Verhalten basiert auf einer Regel der Quantenmechanik, nach der Teilchen auch als Welle gedacht werden können. Offenbar ist jedes Neutrino eine Überlagerung aus drei Wellen, die jeweils für eine bestimmte, winzig kleine Masse stehen. Der Anteil jeder einzelnen Massewelle ist bei jeder Neutrinosorte unterschiedlich. Während seines langen Flugs laufen diese Wellen langsam aus dem Ruder und verschieben sich gegeneinander. In dem entstehenden Wellensalat bildet sich mal die eine Wellenkombination, mal die andere.

Für die experimentelle Entdeckung dieser sogenannten Neutrino-Oszillationen gab es 2015 den Nobelpreis. Eher ein Trostpflaster für die Physikergemeinde, denn gleichzeitig hat diese Entdeckung das seit über zwei Jahrzehnten gültige "Standardmodell" der Teilchenphysik über den Haufen geworfen. Dass nämlich Neutrinos eine Masse besitzen – wenn vermutlich auch nur eine extrem geringe –, ist darin nicht vorgesehen.

Trotzdem könnte sich die geringe Wechselwirkung mit Materie, die Forschern bisher so zu schaffen gemacht hat, als nützlich erweisen. "Vielleicht erfahren Neutrinos demnächst eine ganz praktische Anwendung in der nuklearen Rüstungskontrolle", sagt Mark Vagins von der University of California.

Neutrinos entstehen bei den Kernreaktionen in der Sonne, durch Supernova-Explosionen oder wenn kosmische Strahlung auf die Erdatmosphäre trifft. Und eben auch in Brennelementen von Kernkraftwerken. Beim sogenannten Betazerfall wandelt sich ein Neutron in ein Proton um und gibt dabei ein Elektron sowie ein Elektron-Antineutrino ab. Ja, Antineutrino. Zu den drei Neutrinosorten existieren jeweils auch die Antimaterie-Teilchen.

"Die in Kernkraftwerken entstehenden Antineutrinos sind die einzige Strahlung, die ich als Betreiber nicht abschirmen kann", erklärt Vagins – auch nicht durch noch so dicke Stahlbetonwände. "Mit einem Detektor könnte man die Anlage überwachen, einfach indem man anhand des Neutrinoflusses feststellt, wie oft der Reaktor heruntergefahren wird." Denn um Plutonium für Atomwaffen effizient zu erbrüten, muss man den Reaktor etwa monatlich abschalten und das Plutonium entnehmen. Im Normalbetrieb abgebrannte Brennstäbe zu ersetzen, ist dagegen frühestens nach einem Jahr nötig.

Die Internationale Atomenergie-Organisation IAEA verrät auf Anfrage, sie beobachte zwar die Entwicklung der Neutrino-Detektoren, habe aber noch keine konkreten Pläne für einen Einsatz. Für eine Anwendung gibt es aber bereits verschiedene Szenarien.

So könnte man mit Erlaubnis eines Landes einen Neutrinodetektor direkt an einer Nuklearanlage bauen. Dabei ist die Menge der Neutrinos hoch, und der Detektor kann entsprechend kleiner ausfallen. Die Größe eines Kühlschranks würde wohl reichen. An dieser Variante arbeiten zum Beispiel Forscher der US-Hochschule Virginia Tech. Ihr Gerät könnte der erste derartige Detektor sein, der wirklich zum Einsatz kommt. Er enthält viele kleine Kristalle, in denen Antineutrinos Lichtspuren hinterlassen.

Mithilfe einer Energieanalyse der Antineutrinos könnte er auch das genaue Verhältnis der Plutonium- und Uran-Isotope in den Brennstäben ermitteln. So ließe sich nicht nur feststellen, ob ein Reaktor heimlich zur Produktion von waffenfähigem Plutonium missbraucht wird. Zusätzlich könnte das permanente Monitoring dem Betreiber helfen, den Zeitpunkt für den Wechsel der Brennstäbe genauer zu bestimmen und so Geld zu sparen. Außerdem brächte eine genauere Kenntnis des Reaktorzustandes mehr Sicherheit.

Das zweite Szenario wäre ein Detektor außerhalb des eigentlichen Reaktorgeländes – was einigen Staaten sicherlich besser gefallen dürfte. So bliebe ihre Souveränität zumindest teilweise gewahrt, und sie müssten keine Inspektoren in sensible Bereiche lassen. Gefördert von der Nationalen Behörde für nukleare Sicherheit in den USA wollen Forschungsinstitute und Universitäten aus den Vereinigten Staaten und Großbritannien den Prototyp eines solchen Detektors bauen.

Mark Vagins ist stellvertretender Sprecher dieses Konsortiums. Anvisierter Standort ist das Kalibergwerk Boulby Mine an der Nordostküste Englands. In 1100 Meter Tiefe wäre der Detektor vor anderer störender Strahlung geschützt – und könnte die Antineutrinos des 25 Kilometer entfernten Atomkraftwerks Hartlepool detektieren. Die Fertigstellung ist für das Jahr 2024 geplant.

Damit wenigstens eine Handvoll Elektron-Antineutrinos aus Hartlepool pro Tag gemessen werden können, wollen die Forscher den 3500 Tonnen Wasser im Detektor Spuren des Elements Gadolinium zusetzen. Auch der weltgrößte Wassertank im Detektor Super-Kamiokande in Japan wird momentan gerade auf diese Technik umgerüstet.

Der Trick: Im Wasser produziert ein Elektron-Antineutrino mit einem Proton eines Wassermoleküls ein Neutron und ein Positron (das positiv geladene Antiteilchen des Elektrons). Dessen Flug erzeugt im Wasser Lichtblitze, die an den Detektorwänden aufgefangen und verstärkt werden. Mit dem Gadolinium im Wasser kann nun zusätzlich das verbleibende Neutron eingefangen werden, denn Gadolinium ist der beste Neutronenfänger des Periodensystems. Bei diesem Einfang, der zeitlich etwas verzögert stattfindet, entstehen Gammastrahlen, die ebenfalls detektiert werden können. Man erhält also für jedes Neutrino-Ereignis zwei Signale und kann sie so vom Hintergrundrauschen gut unterscheiden.

Langfristiges Ziel der Forscher ist ein wesentlich größerer Detektor – das dritte Szenario. Er würde eine Million Tonnen Wasser fassen und nach Schätzung von Vagins eine Milliarde Dollar kosten. Ihn könne man etwa an der Grenze zu Iran oder Nordkorea aufbauen. So ließen sich die Aktivitäten dieser Länder vollständig überwachen, ohne auf deren Zustimmung angewiesen zu sein.

Wo genau so ein Detektor stehen müsste, ist eine Wissenschaft für sich. Die Distanz, über die Reaktorneutrinos ihre Gestalt wechseln, beträgt etwa 100 bis 200 Kilometer, danach oszillieren sie wieder zurück. Man wird also mit der Geografie und den Landesgrenzen ziemlich hin und her zirkeln müssen, um Detektoren entweder näher als 100 oder weiter als 200 Kilometer von den fraglichen Reaktoren zu platzieren.

Steht er, würde die Zahl der ankommenden Antineutrinos beispielsweise verraten, ob ein Land die Leistung seiner Kernreaktoren korrekt angegeben hat. Wenn mehr ankommen, als die Physik erlaubt, muss irgendwo noch ein versteckter Meiler stehen. "Für die gezielte Produktion von waffenfähigem Plutonium reicht auch ein kleiner Reaktor aus, den man leicht verstecken kann", erklärt Vagins.

Wenn man das Verfahren mit dem Gadolinium perfektioniert, könnte man aus den unterschiedlichen Detektionsorten der beiden Signale sogar auf die Richtung schließen, aus der die Antineutrinos gekommen sind – und den versteckten Reaktor aufspüren.

(bsc)