Ein Riecher für Parkinson

Joy Milne kann riechen, ob ein Mensch Parkinson hat. Nun hat die Krankenschwester geholfen, einen Atemtest zu entwickeln. Auch bei Krebs können flüchtige Verbindungen im Atem eine frühe Diagnose ermöglichen.

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Ein Riecher für Parkinson

(Bild:  Owlstone Medical)

Lesezeit: 8 Min.
Von
  • Veronika Szentpetery-Kessler

Joy Milne hat eine außergewöhnlich feine Nase. So gut wie die Schottin riechen sonst nur Hunde. Deshalb fiel vor 34 Jahren auch niemandem sonst der moschusartige Geruch auf, den ihr 33-jähriger Mann Les plötzlich verströmte. Erst als Les zwölf Jahre später beunruhigende Symptome wie Geruchsverlust und Gleichgewichtsstörungen zeigte, wurde bei ihm Parkinson diagnostiziert. Auf einer Wohltätigkeitsveranstaltung erkannte Joy damals, dass der besondere Geruch ihres Mannes typisch für die Erkrankung war. "Plötzlich rochen ganz viele Menschen wie Les", erinnert sich die mittlerweile pensionierte Krankenschwester. Sie fragte sich, warum ein so offensichtliches Symptom nicht zur Frühdiagnose genutzt wird.

Tatsächlich gehört Geruchsdiagnostik nicht zum Standardrepertoire der Ärzte, obwohl ältere medizinische Schriften für einige Leiden durchaus typische Gerüche auflisten. So soll der Atem von Zuckerkranken nach Aceton und von Typhuskranken nach backendem Brot riechen. Doch Krankheiten verändern den Atem nicht für alle gut wahrnehmbar. Noch vor 15 Jahren verwiesen Experten bei komplexen Krankheiten wie Krebs die Treffgenauigkeit von Riechexperimenten mit entsprechend trainierten Hunden ins Reich der Mythen.

Das Urteil sollte sich als vorschnell erweisen. Mit einer neuen Generation von empfindlichen Sensoren ändert sich das Bild. "Sie können heute sehr niedrige Konzentrationen der relevanten Verbindungen im Atem nachweisen", sagt Chemieingenieur Hossam Haick vom Technion-Israel Institute of Technology. Inzwischen ist die Zahl der klinischen Studien zur Atemanalyse weltweit stark gestiegen. Wissenschaftler vermessen bei Patienten die Zusammensetzung der ausgeatmeten Luft und erstellen Geruchsprofile für Leiden beginnend mit Krebs über neurodegenerative Krankheiten wie Parkinson und Entzündungskrankheiten wie Morbus Crohn bis hin zu Infektionen.

Geruchsprofile bestehen aus charakteristischen Kombinationen und veränderten Mengen sogenannter flüchtiger organischer Verbindungen (volatile organic compounds, VOC). Diese Endprodukte des Stoffwechsels treten meist aus dem Blut in die Lunge über und werden ausgeatmet. Wenn Krankheiten den Stoffwechsel verändern oder Erreger neue Substanzen freisetzen, kann sich die Zusammensetzung des Atems verändern. Dadurch lassen sich Krankheiten oft schon Jahre früher erkennen, bevor die typischen Symptome auftreten.

Was Joy Milne bei ihrem Mann roch, geht auf spezielle Stoffe im Hauttalg an der Stirn und am Nacken zurück. Von Parkinson betroffene Menschen bilden mehr davon als Gesunde. Als Folge siedeln sich Bakterien und Hefepilze an, die dann den moschusartigen Geruch verursachen.

Perdita Barran von der University of Manchester hat sich inzwischen mit Milnes Hilfe darangemacht, in Hauttalg-Proben von Patienten krankheitstypische Substanzen zu identifizieren. Ein Analysegerät, eine Mischung aus Gas-Chromatograf und Flugzeitmassenspektrometer, zerlegte die Proben in ihre Bestandteile und ermittelte die genaue Zusammensetzung. Gleichzeitig prüfte Milne die Geruchskomponenten mit ihrer Nase. Erkannte sie einen Geruch wieder, wurden die zugehörigen Moleküle genauer untersucht. "Ohne Joy hätten wir nicht gewusst, wonach wir in der gigantischen Datenmenge suchen sollen", sagt Ray Perkins, Geschäftsführer vom Gerätehersteller Anatune, der das Analyse-Equipment zur Verfügung gestellt hat.

Bei Parkinson sterben Dopamin produzierende Nervenzellen ab. Die Folge sind die typischen Bewegungsstörungen wie Zittern und Muskelstarre. Heilen lässt sich die Krankheit wohl nicht. Trotzdem "brauchen wir solche Marker", sagt Jens Volkmann, Direktor der Neurologischen Klinik und Poliklinik am Universitätsklinikum Würzburg. In klinischen Studien würden zwar zahlreiche Medikamente getestet, so Volkmann. Doch erhielten die Probanden sie meist in so späten Krankheitsstadien, dass sie kaum etwas bewirken könnten. Mit einer möglichst frühen Diagnose hingegen "könnte man die Krankheit potenziell aufhalten oder verlangsamen, noch bevor die Nervenzellen großflächig absterben".

Groß sind die Erwartungen auch bei Krebs. Wie Joy Milne kennt auch Billy Boyle den Schock einer zu späten Diagnose. 2012 erkrankte seine Partnerin Kate Gross mit nur 34 Jahren an Darmkrebs und starb zwei Jahre später daran, als die Zwillingssöhne des Paares fünf Jahre alt waren. "Ich hatte keine Ahnung, wie wichtig die Früherkennung ist. Als Kate im vierten – und letzten – Stadium diagnostiziert wurde, betrug ihre fünfjährige Überlebensrate nur noch fünf Prozent. Im ersten Stadium wären es 95 Prozent gewesen", er-zählt Boyle. Als Geschäftsführer des britischen Unternehmens Owlstone hatte er jedoch eine Idee, wie er das ändern könnte. Er wusste, dass bisherige Tests nicht effektiv genug (Blutnachweis im Stuhl) oder so unbequem sind, dass viele davor zurückschrecken (Darmspiegelung).

Also überlegte Boyle, wie die Analysegeräte seiner Firma die Frühdiagnose künftig erleichtern könnten. Eigentlich detektieren sie Sprengstoffe und chemische Waffen anhand von VOC-Profilen. Boyle programmierte das Gerät um, damit es flüchtige organische Komponenten bei Darmkrebs registrieren kann – und gründete 2016 die Firma Owlstone Medical aus.

Das Herzstück von Owlstones Messgerät ist ein etwa SIM-Karten-großer Mikrochip, der als Filter funktioniert. Die Moleküle einer Probe werden darin erst ionisiert, also elektrisch aufgeladen, und dann in einem Kanalsystem durch elektrische Felder geleitet, bis sie auf einem Detektor einen Stromfluss auslösen. Wie schnell und wie weit seitlich sich die Ionen unterwegs bewegen, verrät ihre Identität und Konzentration. Für jede gesuchte Substanz lässt sich eine eigene Feldkonfiguration hinterlegen, so auch für VOC, die typisch für frühe Krebsstadien sind.

Nun überprüft Großbritanniens staatliches Gesundheitssystem NHS, wie gut die Methode funktioniert. Die Intercept-Studie mit 1400 Probanden untersucht, wie akkurat Owlstones Technologie Darmkrebs anhand von VOC aus Atem- und Urinproben frühzeitig erkennt. In einer Pilotstudie gelang das bei Urinproben in 88 Prozent der Fälle. Die Lucid-Studie hat in ihrer zweiten Phase, die dieses Jahr abgeschlossen wird, sogar 4000 Testpersonen mit Verdacht auf Lungenkrebs im Frühstadium für Atemanalysen rekrutiert.

Allerdings kann es sehr aufwendig sein, genügend Geruchskomponenten für jede Krankheit zu identifizieren. Das Team von Technion-Forscher Haick arbeitet deshalb an einer sogenannten elektronischen Nase, die auch ohne bekannte Profile eine Diagnose liefert. Sie lernt ähnlich wie Hunde, Gerüche als Gesamtmuster wahrzunehmen. "Hunde legen in ihrem Gehirn eine Datenbank dieser Muster an und gleichen alles, was sie riechen, damit ab", erklärt Haick. Dabei analysieren sie nicht, was etwa Orangenduft im Einzelnen enthält. Aber wenn sie ihn einmal verinnerlicht haben, erkennen sie ihn wieder.

Die Forscher entwickelten künstliche Riechrezeptoren. Je nach Mix und Konzentration der flüchtigen Verbindungen veränderten sich ihre elektrische Leitfähigkeit und weitere Eigenschaften auf charakteristische Weise. Aus diesen Mustern lernte ein Maschinenlern-Algorithmus, 17 Krankheiten zu identifizieren und voneinander zu unterscheiden. Zu den diagnostizierbaren Leiden gehören mehrere Krebsarten, entzündliche Darmerkrankungen, neuronale Leiden wie Parkinson und die Schwangerschaftsvergiftung Präeklampsie.

Genauigkeit und Trennschärfe von Haicks elektronischer Nase variierten dabei zum Teil noch sehr deutlich. Eierstockkrebs etwa ließ sich in einer Pilotstudie mit wenigen Probanden in 79 Prozent der Fälle korrekt identifizieren. Die Unterscheidung zu Nierenkrebs gelang zu 100 Prozent, zu Blasenkrebs aber lediglich zu 64 Prozent.

Auch die Früherkennung funktioniert, wie eine Pilotstudie mit Magenkrebs-Patienten zeigte. Der Test erkannte Patienten mit schweren Krebsvorstufen, also einem hohen Krebsrisiko, in 90 Prozent der Fälle. Um die Genauigkeit weiter zu verbessern, sollen zusätzliche Rezeptoren entwickelt und die Algorithmen optimiert werden.

In Zukunft könnte die Krebsfrüherkennung per Atemanalyse nicht nur auf VOC, sondern auf eine vielfältige Biomarker-Mischung zurückgreifen. Bei Lungenkrebs etwa finden sich im Atem charakteristische RNA-Abschnitte, die dem Erbgut als Boten dienen. Vergangenes Jahr hat ein Team von Guillermo Barreto vom Max-Planck-Institut für Herz- und Lungenforschung die Pilotversion eines Atemtests vorgestellt, der sie aufspüren kann. Nach einer Trainingsphase identifizierten die Forscher in einer Studie mit mehr als 300 Probanden, deren Gesundheitszustand unbekannt war, 98 Prozent der Lungenkrebs-Patienten. Zwar meldete das Programm auch bei zehn Prozent der Kontrollgruppe fälschlicherweise Krebs, was zu unnötigen Eingriffen wie Lungenbiopsien führen würde. Trotzdem sind die Ergebnisse deutlich präziser als die der bisherigen Standarddiagnostik per Computertomografie.

Bei zehn Patienten erkannte der Atemtest den Krebs schon in den frühen Phasen I und II. Nun wird er in mehreren großen klinischen Studien – teilweise schon mit Industriepartnern – weiter geprüft. Laut Barreto könnte er künftig die Befunde der Computertomografien absichern und am Ende sogar ein Einstiegstest sein: "Die Technik wird kommen."

(bsc)