Sex, Lügen und Internet

Online verhält sich das Kulturwesen Mensch deutlich ungebremster als im realen Leben. Auch getäuscht wird hemmungslos.

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Lesezeit: 3 Min.
Von
  • Peter Glaser

Erst hingen alle an den Lippen der lesbischen Bloggerin Amina Abdallah Arraf al Omari aus Syrien, dann wurde sie als ein 40-jähriger Mann aus Edinburgh enttarnt und es stellte sich wieder einmal die Frage nach der Glaubwürdigkeit digitaler Identitäten. Im Internetzeitalter sollte jeder einen Instinkt dafür entwickeln, der ihm verrät, wer einem da – repräsentiert durch Zeilen oder Fotos am Bildschirm – eigentlich gegenübersitzt. Während wir in der Realwelt zahlreiche Möglichkeiten haben, ein Gegenüber einzuschätzen, von der Körpersprache über die Stimme bis hin zur Reaktion auf Ironie, verengt sich der Einblick, wenn wir jemandem online begegnen.

Diese Beschränkung zieht zum Teil bizarre Effekte nach sich. Die britische Dokumentarfilmerin Jenny Kleeman berichtete über Fälle, in denen Menschen schwere Krankheiten vortäuschen, um online Sympathien abzusammeln. Eine neue Art von Online-Betrug, bei der die Menschen nicht um ihr Geld gebracht werden, sondern um ihre Zeit und ihr Mitempfinden.

Marc Feldman, Professor für klinische Psychiatrie an der University of Alabama, hat für das Syndrom die Bezeichnung Münchhausen By Internet (MBI) eingeführt. "Es war ein gutes Gefühl, die Zeit mit Menschen zu verbringen, die in erster Linie um mich besorgt waren", sagt eine Ex-Identitätsfälscherin namens Jeanette. Nachdem sie einmal angefangen hatte zu lügen, konnte sie nicht mehr aufhören. Sympathie von vielen Menschen im Netz zu bekommen fühlt sich einfach besser an, als wenn sie bloß von einem Menschen in einem weißen Kittel kommt.

Derzeit boomt gerade eine makabre MBI-Variante: Man tut als sei man tot. Der 15-Jährige Ahmed Simrin etwa hat auf seiner Instagram-Seite ein Foto mit über 22.000 Kommentaren und 4.000 Likes. Das Foto zeigt nichts Besonderes. Man sieht Simrin, der neben einem Freund steht, beide starren in die Kamera. Wer allerdings die Kommentare liest, muß zu dem Schluß kommen, dass Simrin gestorben ist. Tausende wünschen ihm, dass er in Frieden Ruhen möge. "Wir werden dich vermissen."

Aber Simrin ist nicht tot. Er hatte angenommen, dass es Spaß macht, wenn die Leute denken, dass man tot sei. Auf Dutzenden von Instagram-Accounts hinterließ er Kommentare, die dazu auffoderten, Beileidskundgebungen zu seinen Fotos zu posten. Er habe noch ein weiteres solches Foto mit mehr als 10.000 Kommentaren, das Instagram allerdings wegen Verletzung seiner Community-Richtlinien entfernt habe. "Ich habe beschlossen, es zu tun, weil etwas Neues machen wollte", erläutert Simrin. "Die Menschen werden heute berühmt, weil sie irgendetwas tun."

Streiche zu spielen ist nichts Neues, aber nun haben sie die Power der sozialen Medien hinter sich. Jeff Hancock, Professor für Kommunikation am Stanford Social Media Lab, hält diese Art von Fake News-Falle für "eine kranke Form von Humor, aber nichtsdestoweniger ist es Humor." Negative Emotionen sind aufmerksamkeitsstark, und Likes sind der Treibstoff der sozialen Medien. Sie können Menschen dazu bringen, sich extrem zu verhalten.

Simrin sagt, er habe inzwischen keine solchen Kommentaraufforderungen mehr hinterlassen, "weil Leute beleidigt waren" – auch wenn er der Meinung ist, sie seien bloß neidisch. Instagram teilte im übrigen mit, dass es ein "Fehler" gewesen sei, das Foto mit den mehr als 10.000 Kommentaren von seiner Seite zu entfernen. Man habe es wieder eingestellt. "Diese Art von Aktivität verstößt nicht gegen unsere Richtlinien."

(bsc)