Radikalisierung auf Steam, Waffenhandel im Dark-Web: Der Weg zum OEZ-Attentat

Juristisch ist der Anschlag am Münchner Olympia-Einkaufszentrum fürs erste abgearbeitet. Wichtige Fragen bleiben offen.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 367 Kommentare lesen
Radikalisierung auf Steam, Waffenhandel im Dark-Web: Der Weg zum OEZ-Attentat

(Bild: sdecoret / shutterstock.com)

Lesezeit: 35 Min.
Von
  • Christoph Lemmer
Inhaltsverzeichnis

Am vorletzten Tag des Prozesses blitzt noch einmal die Tragik des Verbrechens auf. Angeklagt ist Alexander U., der Mann, der das Forum "Deutschland im Deep Web" (DiDW) im Tornetz administrierte. Das Wort hat Hassan L., der Vater eines 14-Jährigen, der am 22. Juli 2016 am Münchner Olympia-Einkaufszentrum (OEZ) erschossen wurde. "Wissen Sie, was schrecklich ist?", fragt er mit lauter Stimme, fast schreiend. Und antwortet: "Von Polizeibeamten zu hören, dass mein Sohn ermordet wurde. Erschossen wurde!" Dann steht L. auf und verlässt ohne ein weiteres Wort den Saal. Seine Frau ist an der Reihe, Sibel. Sie spricht ruhiger, aber nicht weniger bitter. Den Behörden traue sie nicht mehr, sagt sie.

Mehr Infos

Zur Urteilsverkündung reisen Hassan L. und seine Frau dann nicht mehr an. Sieben Jahre Gefängnis verhängt das Landgericht Karlsruhe in der Woche vor Weihnachten gegen U. Der Anschlag am Münchner OEZ macht den größten Teil an der Strafe aus. Der Vorsitzende Richter Holger Radke hält U. vor, in seinem Forum bewusst Bereiche für Verbotenes zugelassen zu haben. Für illegalen Drogenhandel habe er Werbung betrieben. Illegalen Waffenhandel habe er toleriert und unterstützt. Er habe zwar in München nicht selber geschossen, er habe auch nicht gewusst, dass da jemand einen Anschlag plane oder dass der Todesschütze auf seiner Plattform seinen Waffenlieferanten fand. Aber Alexander U. habe die Voraussetzungen für all das geschaffen. Hätte er es bleiben lassen, dann würde der 14jährige Sohn von Hassan L. vielleicht noch leben, ebenso die anderen der insgesamt neun Todesopfer.

Alexander U. ist der zweite Mann, den die Justiz für den Münchner Anschlag bestraft. Der erste war Philipp K. (33), der Waffenhändler. K. wurde im Januar 2018 vom Landgericht München I zu ebenfalls sieben Jahren Gefängnis verurteilt. Das Hauptdelikt war bei K. wie bei U. fahrlässige Tötung. In beiden Verfahren – in München wie in Karlsruhe – stellen Gericht und Staatsanwaltschaft heraus, sie hätten "juristisches Neuland" betreten. In beiden Fällen sei "erstmals" ein Täter für ein Tötungsdelikt bestraft worden, das ein "Dritter" begangen habe. Auch Philipp K. habe von den Plänen des Todesschützen nichts gewusst. Aber auch er musste sich nachsagen lassen: Ohne ihn hätte es die Toten am OEZ wohl nicht gegeben.

In beiden Fällen sind die Urteile noch nicht rechtskräftig. Gegen das Münchner Urteil sind mehrere Revisionen anhängig. Der Bundesgerichtshof (BGH) hat darüber aber noch nicht entschieden. Auch die Karlsruher Entscheidung wird wohl beim BGH landen, wie die Verteidiger von U. ankündigten.

Der eigentliche Täter kann dagegen nicht bestraft werden. Er ist tot. Wenige Stunden nach seiner mörderischen Tour entdecken ihn Polizisten vor einem Wohnhaus. Dorthin war er geflohen, nachdem er um sich schießend zuerst in einem McDonalds, dann auf der Straße und schließlich im Einkaufszentrum Menschen erschossen und verletzt hatte. Mit dem Eintreffen der ersten Einsatzkräfte hatte er sich zurückgezogen. Als Beamte ihn entdecken, richtet er vor ihren Augen die Waffe gegen sich und drückt ab. Als sich die Nachricht von seinem Tod verbreitet, löst sich die Metropole München nach und nach aus dem Panikmodus, in den sie nach den ersten Berichten über Schüsse am OEZ gefallen war, und zwar über Stunden.

Überall in der Stadt wollen Menschen plötzlich Schüsse gehört haben, wo gar keine fallen. Alarm aus der U-Bahn: Ein Mann schieße um sich. Prompt wird der Betrieb eingestellt. Ähnliche Phantom-Meldungen überall aus dem Stadtgebiet. Der sonst viel belebte Stachus ist an diesem Sommerabend menschenleer. Die Polizei riegelt sogar den Hauptbahnhof ab. Der gesamte Verkehr steht still. Man kommt nicht nach München rein, man kommt nicht aus München raus, und ist man drin, kommt man nicht weiter.

Dass München so panisch reagiert, ist erklärlich. Denn in den Wochen davor gab es eine außergewöhnliche Terrorserie:

  • Hannover, 26. Februar 2016: Eine 15-Jährige greift Bundespolizisten mit einem Messer an.
  • Istanbul, 19. März 2016: Bei einer Bombenexplosion sterben sechs Menschen, unter ihnen der mutmaßliche Bombenleger. 36 werden verletzt.
  • Brüssel, 22. März 2016: Islamistische Terroristen greifen Flughafen und mehrere Metrostationen an. 39 Tote und 340 Verletzte.
  • Essen, 16. April 2016: In einem Sikh-Tempel in der Ruhrgebietsstadt explodiert eine Bombe. Drei Verletzte.
  • Tel Aviv, 8. Juni 2016: Palästinenser schießen um sich, töten 4 Menschen und verletzen 36.
  • Orlando, Florida, 12. Juni 2016: Mit einem Sturmgewehr dringt ein Islamist in einen Schwulen-Nachtclub ein, tötet 49 Gäste und verletzt 53.
  • Magnanville, Frankreich, 13. Juni 2016: Ein Islamist ersticht einen Polizisten und eine Polizeisekretärin.
  • 28. Juni 2016, Istanbul: Islamistische Selbstmordattentäter töten im Flughafen 45 Menschen und verletzen 239.
  • Nizza, Frankreich, 14. Juli 2016: Ein Islamist rast mit einem Lkw in die Menschenmenge an der Strandpromenade. 86 Menschen sterben, unter ihnen der Attentäter, 303 werden verletzt.
  • Würzburg, Bayern, 18. Juli 2016: Ein afghanischer Flüchtling greift in einer Regionalbahn Fahrgäste mit einer Axt und einem Messer an. Fünf Verletzte. SEK-Beamte erschießen den Attentäter.

Würzburg am 18. Juli 2016: Das war ein Montag. An diesem Tag passiert, ohne, dass die Öffentlichkeit es mitbekommt, noch etwas anderes: Der spätere Münchener Attentäter trifft sich im hessischen Marburg mit Waffendealer Philipp K. Es ist das zweite Treffen der beiden, bei dem er nur noch 350 Schuss Munition nachkauft. Seine Waffe hat er da schon. In der Rückschau wird klar, dass der Mordplan längst fertig geschmiedet ist. Und auch seine Motive liegen offen, schaut man sich die relevanten Stationen seiner Lebensgeschichte an. Er verstand sich als arischer Übermensch, der sich das Recht nahm, Untermenschen zu töten. Er hasste Zuwanderer und mochte Hitler. Das erscheint kurios und widersprüchlich, war der Täter doch selbst ein Zuwandererkind. Aber der Widerspruch löst sich auf, schaut man sich die Chronologie an.

Bei seiner Geburt hieß er noch nicht David, sondern Ali. Seine Eltern stammen beide aus der iranischen Hauptstadt Teheran. 1997 fliehen sie vor dem Ayatollah-Regime und kommen nach Deutschland. Am 12. Januar 1998 beantragen sie in Deutschland politisches Asyl. Ali kommt wenig später zur Welt, am 20. April 1998. Der vollständige Name des Jungen lautet: Ali Sonboly Hamedani.

Die Eltern ziehen in den Ortsteil Hasenbergl im Münchner Norden. Ein sozialer Brennpunkt. Im Kindergarten findet der Junge nur schwer Freunde. Dasselbe schreiben seine Lehrer in sein erstes Schulzeugnis.

Der Vater betreibt über die Jahre Schritt für Schritt die Deutschwerdung der Familie, was der Sohn später für sich fortsetzt. Einen dieser Schritte zur Deutschwerdung geht der Vater, als sein Sohn 8 Jahre alt ist. Er beantragt erfolgreich die deutsche Staatsangehörigkeit und erhält die Einbürgerungsurkunde.

Zu dieser Zeit bekommt Ali zum ersten Mal Zugang zur Spieleplattform Steam. Am 29. Januar 2007 registriert er oder sein Vater den User "arief11235". Den Ermittlungsakten ist zu entnehmen, dass zu diesem Account ein Paypal-Konto des Vaters hinterlegt war. Der Account existiert bis kurz nach dem Anschlag in München Tod, also gut neun Jahre. Er wird zeitweise exzessiv zu Counter-Strike-Spielen verwendet. Am Ende stehen allein für diesen Account 1844 Spiel-Stunden auf dem Zähler. Im Laufe der Zeit kommen weitere sechs Steam-Accounts dazu – mit zusammen 2504 Stunden Counter Strike. Macht in Summe 4348 Stunden Counter Strike in neun Jahren. Das ist ein monatlicher Schnitt von rund 40 Stunden.

Mit 10 wechselt der Junge an eine Realschule. Er bekommt einen Verweis, weil er einem Mitschüler die Faust in den Bauch geschlagen habe. Er störe häufig den Unterricht, steht in seinen Beurteilungen. Er tritt in einen Kampfsportverein ein. Drei Jahre bleibt er dort und trainiert regelmäßig. Am 4. Mai 2010 wird auch der Junge deutscher Staatsbürger und erhält seine eigene Einbürgerungsurkunde.

In der Schule, so zeichnet es die Akte nach, entwickelt sich ein Dauerkonflikt vor allem zu drei anderen Jungen. Die würden ihn immer wieder abpassen und verprügeln, beschwert er sich beim Direktor. Die Eltern zeigen die Jungen an. Es gibt einen Termin beim Schulleiter. Die Jungen entschuldigen sich. Die Eltern ziehen die Anzeige zurück.

Der Konflikt ist damit aber wohl nicht gelöst. Der Junge soll wegen seines Geburtstages gehänselt worden sein – 20. April, an diesem Tag hatte auch Adolf Hitler Geburtstag. Mädchen sollen ihn verspottet haben. Eine Mitschülerin habe ihm eine Federboa umgehängt und ihn mit Lippenstift geschminkt. Ob das Mobbing war oder ein Spiel, an dem er sich beteiligte, bleibt unklar. Die späteren Aussagen der Schüler dazu sind widersprüchlich. Die meisten Lehrer bestreiten, dass er gemobbt wurde.

Die Familie zieht um und wechselt das Stadtviertel. Die neue Wohnung liegt in der Münchner Innenstadt. Zu Hause hat er ein eigenes Zimmer. Er hält es allein in Ordnung. Seine Mutter lässt er nur ungern ein.

Deutschwerdung der Familie, nächster Schritt: Am 6. Februar 2012 lässt der Vater den zweiten Teil seines Familiennamens streichen – der persisch klingende Schlussname fällt weg.

Ali wechselt auf eine neue Realschule. Er beginnt, sich für Computer zu interessieren. Die neunte Klasse muss er wiederholen, aber er habe hart gearbeitet, bescheinigen ihm seine Lehrer. Er schafft den qualifizierenden Abschluss. In der 10. Klasse wählen ihn seine Mitschüler zum Klassensprecher. Kein Außenseiter mehr? Alles gut jetzt?

Am 16. Februar 2015 eröffnet er – inzwischen 16 Jahren alt – seinen zweiten Steam-Account. Der Account-Name laute "i7hunterz". Als einen der Spielernamen wählt er: "†NΞO† GeR†". Unter diesem Spielernamen tritt er später einer Gruppe namens "Anti Refugee Club" bei. Dieser Gruppe gehören rund 250 Mitglieder an. Unter ihnen befindet sich ein weiterer ein künftiger Attentäter, der am 7. Dezember 2017 in einer High School in New Mexico zwei Menschen erschießen und sich dann selber das Leben nehmen würde.