Alle wissen immer schon alles

Gibt es Ideen, die vollkommen neu sind oder entwickeln sich neue immer aus alten Ideen? Was es jedenfalls nicht mehr gibt, sind Kopien.

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Lesezeit: 3 Min.
Von
  • Peter Glaser

"Das Internet hat mir gezeigt, dass ich in meinem ganzen Leben noch keine Originalidee hatte", schreibt ein enttäuschter Zeitgenosse auf Twitter. Die Weltwissensmasse liegt nun unter der Google-Lupe, und immer mehr von all dem seit Jahrtausenden Gedachten und Geschriebenen tritt nun an, um mich, das Individuum, aus der Konkurrenz zu fegen. Wozu mir gleich wieder etwas einfällt, zwar auch keine Originalidee, aber eine ältere, aktive Version des Wissensweltverdrusses, derzufolge die schlechten Musiker dort klauen, wo man's gleich hört, die guten aber bei Bands, die keiner kennt.

Das mit dem Original und der Kopie hat sich inzwischen fundamental verändert, denn digital gibt es nur noch Originale. Der Kopie aus der analogen Ära haftete stets eine Qualitätsminderung an. Die digitale Vervielfältigung dagegen ist entweder identisch mit dem Original oder defekt. Das einzig Vorrangige, worauf sich so etwas wie ein Original noch berufen kann, ist der Zeitpunkt seines Entstehens.

Dabei ist das Kopieren eine ausserordentlich erfolgreiche Evolutionsstrategie. Der Frühmensch hat den Bären imitiert, der vorführte, wie man an den Honig kommt. Der Jetztmensch setzt das mit technischer Hilfe fort und nennt es Bionik. Wobei man den Eindruck haben könnte, dass es eine speziell europäische Angst gibt, unoriginell zu sein. Sie verwechselt Eitelkeit mit Individualität und verschwendet viel Schaffenskraft, um zu verbergen, wo ihre Ideen wurzeln. Am liebsten sollen sie aus dem Nichts erschienen sein. Ein Japaner wird – aus Höflichkeit nur innerlich – den Kopf schütteln, wenn ein Europäer ihm das gründlichstmögliche Kopieren als Originalitätsdefizit unterstellt, anstatt zu erkennen, dass der Japaner auf diese Weise eine Sache so gut es geht zu verstehen versucht.

"Alle wissen immer schon alles", beschreibt der Fotograf Sebastian Kusenberg die gläsernen Sphären, in die viele sich einschließen und trotzdem meinen, sie wären offen für Neues. Da ist diese Hoffnung auf etwas, das noch keine Geschichte hat. Das noch nicht mit dieser Welt in Berührung gekommen ist. Philosophen nennen es "Emergenz", etwas, das sich aus nichts Bekanntem herleiten lässt. Aber wer plündert die Erde? Es sind die Gegner der Kopie, die als Touristen wegen einer Originalanmutung alles überrennen. Weil alle alles selber sehen wollen und jeder überall hinwill, sieht keiner mehr irgend etwas.

Das Internet ist der Beweis dafür, dass Originalität keine Idee für sich ist, sondern dass nun nicht mehr nur Geräte, sondern auch die Ideen, die sich in ihnen bewegen, miteinander verbunden sind. Die Entwicklung der Welt beruht nicht auf ehernen Originalen, sondern auf dem Kopierprinzip. Eine Evolution ist allerdings nur möglich durch kleine und kleinste Veränderungen an der jeweils nachfolgenden Generation des Vervielfältigten. Ohne Fehler – die keine sind – geriete der ganze Artenreichtum in eine Sackgasse. Wenn Entwicklung abhängig ist von solchen kleinen Unterschieden beim Kopieren, könnte die Perfektion der digitale Kopie vielleicht auch zu einem gefährlichen Stillstand führen.

(bsc)