Shenzhen, das neue Silicon Valley

Bislang hat Shenzhen die Welt mit billiger, oft kopierter Technik überflutet. Jetzt aber werden die Unternehmer der südchinesischen Stadt ambitionierter – und exportieren auch ihr Entwicklungsmodell in die ganze Welt.

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Shenzhen, das neue Silicon Valley

(Bild: Jonathan Leijonhuvfud)

Lesezeit: 9 Min.
Von
  • An Xiao Mina
  • Jan Chipcase
Inhaltsverzeichnis

Jeden Tag um etwa 16 Uhr ist überall in Huaqiangbei das Quietschen von langgezogenem Paketband zu hören. Die Besitzer der vielen Läden in dem Bezirk der Millionenstadt Shenzhen verpacken die Verkäufe des Tages – Selfie-Stangen, Fidget-Spinner, elektrische Roller, Drohnen. Ab 17 Uhr sind Massen von Boten mit Motorrädern, Lastwagen oder – bei leichten Bestellungen –Balance-Boards unterwegs, um die Waren in die Depots globaler Logistik-Unternehmen oder zu Flugzeugen und Frachtschiffen zu bringen.

Einige Tage oder Wochen später tauchen die Produkte in den größten Städten der Welt ebenso auf wie in den kleinsten Dörfern: Selfie-Sticks werden vor indischen Tempeln in die Höhe gehalten, Xiamo-Roller flitzen durch die Market Street von San Francisco, Drohnen von DJI fliegen so ziemlich überall herum. Wenn auf einem Gerät „made in China“ steht, kommt es höchstwahrscheinlich aus Shenzhen.

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Von 30.000 Einwohnern in den frühen 1970er Jahren ist die südchinesische Stadt auf mehr als zehn Millionen gewachsen, mit glitzernden Wolkenkratzern, einem modernen Transportsystem und Geschäften auf Weltklasse-Niveau. Gentrifizierung und steigende Mieten haben Shenzhen zur teuersten Stadt Chinas gemacht, und die Fabriken, die den Boom antreiben, dringen stetig weiter ins Perlflussdeltas vor.

Auch auf andere Weise hat sich die Stadt verändert. Statt nur einfacher Technik-Spielzeuge wie Hoverboards stellen die dort ansässigen Unternehmen mittlerweile aufwendige Produkte her. Darunter finden sich Elektroroller mit Möglichkeit zur Sofortbuchung oder per App gesteuerte Drohnen ebenso wie zunehmend auch Gadgets mit Künstlicher Intelligenz, etwa Übersetzungsgeräte, Spielzeug-Roboter, halbautonome Fahrzeuge.

Damit könnte Shenzhen etwas werden, zu dem es das Silicon Valley – trotz der dortigen ungewöhnlichen Kombination von Geld und Talent – nie gebracht hat: ein Technologie-Zentrum, das Produkte für jedes Land und fast jedes Budget zu bieten hat. Die große Frage lautet allerdings, ob sich die Stadt angesichts von drei gleichzeitig auftretenden Bedrohungen weiter anpassen und wachsen kann: Probleme machen zunehmende Hürden für Globalisierung, eine zunehmend autoritäre Regierung und die Kosten des eigenen Erfolges.

Shenzhen, das neue Silicon Valley (7 Bilder)

Kein ungewöhnliches Bild in Shenzhen: Drohnen kreisen über den Gebäuden.
(Bild: Jonathan Leijonhufvud)

Die meisten Verbraucher weltweit sind mit Shenzhen zum ersten Mal über Produkten wie Selfie-Sticks in Kontakt gekommen. Diese trivial erscheinenden, relativ leicht zu produzierenden Angebote entstanden in einem Prozess für Produktentwicklung und Vertrieb, der als shanzhai bezeichnet wird; wörtlich übersetzt heißt das „Berg-Versteck“. Nach einer unbestätigten Erzählung hat der Begriff seinen Ursprung in Fabriken in den Bergen des nördlichen Hongkong.

Im shanzhai-Ökosystem kann ein Produkt, das ein westliches Unternehmen 12 bis 18 Monate lang vorbereiten müsste, innerhalb von nur 4 bis 6 Wochen fertig sein. Schon häufiger haben Unternehmen aus dem Westen ein neues Gerät angekündigt und dann eine shanzhai-Version davon im Handel entdeckt, bevor das eigene Produkt dort zu finden war. Viele frühe shanzhai-Erfolge waren Kopien von beliebten Telefonen von Marken wie Nokia, Samsung oder Apple. Doch es gab auch Experimente mit neuen Funktionen. Ein bekanntes Beispiel dafür sind duale SIM-Karten – Apple-Telefone bieten diese Möglichkeit erst seit Neuestem, bei shanzhai-Geräten gibt es sie seit mehr als einem Jahrzehnt. Zugleich hat Shenzhen auf indirekte Weise Einfluss darauf, welche Art von Technologie-Produkten auf der ganzen Welt produziert werden. Hardware-Moden wie Selfie-Stangen und Hoverboards verschwinden nach einer Welle der Aufmerksamkeit von selbst wieder. Doch genau wie Internet-Memes hinterlassen sie ein Echo, das in neuen Umfeldern wieder interessant werden kann. Auf den Selfie-Stick folgte der Gimbal-Bildstabilisierer, der für 100 Dollar jede Kamera zu einer semiprofessionellen Video-Plattform macht. Das Hoverboard mag ein von sozialen Medien getriebenes Einmal-Wunder gewesen sein, aber Roller und Balance-Boards entwickeln sich zu ernst zu nehmenden Transportalternativen für kurze Distanzen. Die ersten Spielzeug-Quadrocopter waren kaum mehr als lästig, inzwischen aber revolutionieren sie sowohl Filmproduktion als auch Vermessungsarbeiten.

Möglich wurden diese Experimente durch das lebhafte Netzwerk aus Zulieferern und kleinen Fabriken im Perflussdelta; ebenfalls nicht geschadet hat die laxe Haltung der Chinesen in Fragen von geistigem Eigentum. Unternehmer konnten Ideen finden, indem sie den ausgedehnten Markt in Huaqiangbei besuchten, auf dem hunderte Fabriken ihre Produkte in Schaufenstern ausstellen. Vor Ort ließ sich leicht erkennen, welche Angebote gut ankommen, um sie zu kopieren. Chinesische Marken wurden dabei genauso gern imitiert wie westliche.

Trotzdem hat das shanzhai-Prinzip seine Grenzen. Unternehmen, deren Produkte auf ausländischen Märkten Fuß fassen, müssen die dortigen Gesetze zum Schutz von geistigem Eigentum beachten. Und wer den Schritt von Fidget-Spinnern und Hoverboards zu vernetzten Glühbirnen und KI-Geräten machen will, braucht mehr technologisches Wissen. Wenn shanzhai sich nicht weiterentwickelt hätte, wäre es eine interessante Fußnote in der Geschichte der Globalisierung geblieben. Aber in Shenzhen bleibt nichts lange, wie es war.