Algerien: Jubel über Massenproteste und die Ängste der anderen

Proteste am 1. März. Bild: Y-Drid/CC BY-SA 4.0

In den USA sorgt man sich über Instabilität, die Putins Einfluss in der EU stärkt. In Frankreich und Italien fürchtet man eine Einwanderungswelle

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In Algerien feiert man das Erwachen der jungen Generation aus einer Lethargie. Die Straßen in Alger waren am gestrigen Freitag wieder voll mit Menschen, die gegen die Macht demonstrierten. Der Präsident Bouteflika hatte vergangene Woche getrickst. Er gab den Forderungen der Straßenproteste "Gegen das 5. Mandat" nach und verzichtete auf seine Kandidatur.

Dafür verlängerte er ganz einfach seine Amtszeit: Die anstehenden Wahlen wurden auf Monate verschoben, ein neuer Termin wurde gar nicht genannt. Was die Verfassung dazu bestimmt, blieb unbeachtet. Hauptsache war: Bouteflika bleibt Präsident und hat viele Monate Schonzeit und mit ihm bleibt jener geheimnisvolle Apparat unbehelligt an den Geldtöpfen und Schalthebeln, den man "die Macht" (Le Pouvoir) nennt. Ausgetauscht wurden der Premierminister und ein weiterer Minister durch zwei Personen, die als gefügige Hilfskräfte bekannt sind.

Man war gespannt, wie die Reaktion auf der Straße auf den Verfassungscoup aussehen wird. Es kam wie erwartet, die Straßen und Plätze waren voll. Anders als in Frankreich bei den Gelbwesten ist der Streit über Teilnehmerzahlen überflüssig, die Demonstranten strömten unübersehbar in großen Mengen zusammen, aus den entferntesten Ecken des Landes, wie es auf den sozialen Medien gefeiert wird.

Euphorie

Die Euphorie ist immens; das Musik-Stück "Liberté" des in Frankreich lebenden algerischen Shooting-Stars Soolking wird auf Demos gefeiert, die Teilnehmermengen und die witzigen Plakate, wo die einzelnen Mitglieder der Macht auf die Schippe genommen werden, auf Twitter weitergeben; die Nachrichten informieren, dass Demonstranten am Ende strategisch geschickt vorgehen, damit es nicht - wie bei den Gelbwesten in Frankreich - am Abend zu Gewaltausschreitungen und Kämpfen mit der Polizei kommt, die dann das Bild der Proteste in der Öffentlichkeit bestimmen.

Es wird auch immer aufgeräumt nach den Demonstrationen. Das neue, junge Algerien ist die beste Postkarte für die Touristen von morgen, heiß es heute in einem Bericht von TSA (Tout sur l'Algérie). In einem anderen Artikel werden euphorisch die großen Vorurteile zerlegt, die in Algerien, aber auch in der die Welt draußen, zum Beispiel in Deutschland, über Algerier verbreitet werden. Nein, sie sind nicht gewalttätig, wie die Demos zeigen.

Es sind viele Frauen dabei, die sich frei bewegen, in allen möglichen Kleidungen; die Solidarität gehe über Geschlechts -und Altersgrenzen hinweg, die neue Generation sei nicht apathisch, sondern im Gegenteil engagiert und politisch wach. Von Islamisten und Extremisten fehle jede Spur.

Hoffnung, dass es anders wird als in desolaten arabischen Ländern

Aus vielen Nachrichten, Kommentaren und Postings zu den Protesten war Hoffnung auf eine dynamische Jugend herauszulesen, die ihre Chancen selbst zu ergreifen weiß, eine gut ausgebildete Jugend, die mit ihrem Selbstbewusstsein, das sie gerade zeigt, Algerien neu prägen könnte.

"Wir haben keine Angst vor der Globalisierung, wir bringen die Globalisierung nach Algerien", war neulich als Posting zu lesen; interessant war auch der Kommentar dazu, wonach sich der Poster mit seiner Selfie-Meinung nicht so eitel in den Vordergrund spielen sollte.

Auffallend aber ist an diesem Austausch über die Proteste, dass die Hoffnung belebt wird, man könne in Algerien etwas erreichen, man muss nicht auswandern wegen einer Aussichtslosigkeit, die das Leben der Jugned in vielen arabischen Staaten prägt (Bedrohliche Verarmung in arabischen Ländern). Es gebe doch viel zu tun. "Unser Platz ist hier", ist eine Aussage, die oft wiederkehrt. Damit hängt auch eine Sorge zusammen.

Auch sie findet sich bislang vor allem in den sozialen Netzwerken und einzelnen Medienberichten. Ein französischer Publizist, der auf Twitter auf eine mögliche größere Auswanderung anspielte, traf auf großen Ärger unter denen, die sich in ihrer Feier der Proteste nicht stören lassen wollen.

Die Regierungen in Europa halten sich zurück. "Nicht einmischen", lautet der Tenor in den Hauptstädten. Und dafür gibt es sehr gute Gründe.

Nun zieht der Artikel eines US-Autoren, der als Nordafrika-Experte bekannt ist, größere Aufmerksamkeit in "Fachkreisen" auf sich. Geoff D. Porter, seines Zeichens Präsident der North Africa Risk Consulting, Inc, blättert in einer Veröffentlichung des US-amerikanischen Council of Foreign Relations den Sorgenkatalog auf.

Pulverfass Algerien

Er warnt vor den Konsequenzen einer politischen Instabilität in Algerien. Die Gefahr sei durch die anwachsenden Proteste gegeben, weil die Regierung und die Macht keine Antwort darauf gefunden hat, um deren Forderungen zu begegnen. Es genüge ein falsches Vorgehen bei einer der Demonstrationen, das Todesopfer zur Folge hat. Dann zeigt sich, dass Algerien ein Pulverfass ist.

Das ist nicht wirklich weit hergeholt. Denn es hat sich großer Ärger über viele Jahre angesammelt und die Macht bröckelt, wie die Überläufer-Bewegungen der letzten Wochen gezeigt haben. Dazu gibt es das eigenartige Phänomen, dass die Proteste zwar formulieren, was nicht mehr weitergehen soll, aber darüber hinaus keine konkrete politische Forderung stellen, auf die exakt zu antworten wäre. Es gibt auch keinen Alternativplan mit einem oppositionellen Schattenkabinett, das anstelle der Regierung treten sollte und bessere Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik machen sollte.

Laut Geoff D. Porter könnte sich daraus eine Situation lang anhaltender Destabilisierung entwickeln, die zu unguten geopolitischen Entwicklungen führen kann. Algerien sei zwar für die USA als Handelspartner nicht sehr wichtig, aber ein entscheidender Partner bei dem Anti-Terrorkampf in der Sahelzone, wo Dschahidisten verschiedenster Gruppen und allen voran al-Qaida ein großes Revier haben.

Zum anderen bringt Porter die Energieversorgung der EU-Länder aufs Tapet. Sollte es da zu Schwierigkeiten kommen, weil der Nachschub aus Algerien durch politische Instabilität gefährdet würde oder gar ausbleibt, so sorgt sich Porter ganz im Geiste von Trump und Grenell vor der wachsenden Abhängigkeit der EU von Putins Gasleitungen.

Stünden in den USA die Sorgen vor einem wachsenden Terroristenproblem und weiten unkontrollierten Zonen in Nordafrika mit entsprechenden Gefahren auf die internationale Sicherheit im Vorgerund, so der Risikoexperte, sei man in Italien und in Frankreich für den Fall der Destabilisierung Algerien über einen größeren Anstieg an Zuwanderern besorgt.