re:publica: US-Forscher hält Chinas Social-Credit-System für Propaganda

Der Westen projiziere mit der Angst vor dem geplanten chinesischen "Citizen Score" seine eigenen Technikängste auf China, meint der Jurist Jeremy Daum.

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re:publica: US-Forscher hält Chinas Social-Credit-System für Propaganda

von links: Kaiser Kuo, Jeremy Daum, Genia Kostka und Manya Koetse

(Bild: heise online / Stefan Krempl)

Lesezeit: 5 Min.
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Experten gehen momentan nicht davon aus, dass die chinesische Regierung mit dem geplanten Bewertungssystem für Bürger und Unternehmen ein Orwellsches Überwachungsinstrument schaffen will. Es gebe vor allem im Westen viele falsche Informationen über das Vorhaben, erklärte Jeremy Daum, Forscher am Paul Tsai China Center an der Yale Law School, am Montag auf der re:publica in Berlin. Die chinesische Regierung liebe solche Berichte, da sie ihr "Legitimität" für das eigene autoritäre Staatsmodell verschafften.

Bei dem vor fünf Jahren für 2020 angekündigten Social-Credit-System gehe es bislang kaum um revolutionäre Technik wie Künstliche Intelligenz (KI) oder allwissende Algorithmen, unterstrich Daum. Im Kern handle es sich um altbekannte Scoring-Verfahren, wie sie die Finanzwirtschaft für Bonitätsprüfungen einsetze. Dazu kämen schwarze Listen, die im nächsten Jahr wohl stärker durchgesetzt werden sollten.

Im Kern gehe es Peking vor allem um Propaganda, meint Daum. Den Bürgern solle beigebracht werden, ehrlich zu sein. Die Rede vom "Citizen Score" habe so vor allem erzieherischen Charakter. In Metropolen wie Schanghai werde das Punktesystem offiziell aber gar nicht erwähnt, potenzielle Sanktionen würden nicht durchgesetzt, erläuterte Daum. Die chinesische Regierung nähre auch den Glauben, dass die Bürger auf der Straße ständig per Videoüberwachung beschattet würden. Die meisten Kameras seien aber gar nicht in Betrieb.

Über einen sozialen Bewertungsmechanismus sollen künftig in China "gute" Bürger belohnt und als vertrauenswürdig eingestuft sowie "schlechte" bestraft und an den Pranger gestellt werden. Was sich wie eine Episode aus der Science-Fiction-Serie "Black Mirror" anhört, wird für Daum im Westen durch einen Spiegel verzerrt: "Wir projizieren unsere eigenen Bedenken und Ängste vor der Technik auf China." Dies sei ähnlich wie beim Umweltschutz: Alle wüssten über die Gefahren, verdrängten sie aber.

Der Mann auf der Straße in China habe gar keine Vorstellung davon, was "Social Credit" bedeute, meint der Daum. Weithin bekannt seien zwar Scoring- und Bonusprogramme wie "Sesame Credit" von Alibaba. Auswirkungen eines weitergehenden Systems spürten die meisten Menschen im Alltag aber noch nicht. Wer etwa etwas stehle, sorge sich auch nicht um einen Verlust an Punkten, da er "ohnehin ins Gefängnis kommt". Die größten Vergütungen bestünden zudem derzeit in einem Ticket für den öffentlichen Nahverkehr in Höhe von umgerechnet 30 US-Dollar, weswegen kaum einer sein Verhalten stark ändere.