Visionen und Realität

Wenn die Gegenwart immer mehr dem ähnelt, was vor noch nicht allzulanger Zeit pure Science Fiction war – was hält dann die Zukunft noch bereit?

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 2 Kommentare lesen
Lesezeit: 4 Min.
Von
  • Peter Glaser

Am 8. September 1960 erschien das erste Heft der deutschen Science-Fiction-Serie Perry Rhodan, seither jede Woche ein weiteres. Im Februar diesen Jahres erblickte Heft 3.000 des intergalaktischen Epos das Licht der Welt ("Mythos Erde"). Die bisher rund 160.000 Seiten, auf denen die Unermesslichkeit der Welt immer neue Überraschungen bereithält und der Phantasie kaum Grenzen gesetzt zu sein scheinen, stellen die auf jeden Fall quantitativ größte zusammenhängende Fiktion in deutscher Sprache dar. Es gibt hunderte Meter durchmessende Kugelraumschiffe, überlichtschnelle Fortbewegung durch den Halbraum, der sich irgendwo zwischen vierter und fünfter Dimension herumdrückt, und für eine Handvoll Auserwählte sogar ein kleines Gerät, das für ewiges Leben sorgt.

Nur dass Computer derart klein, leistungsfähig und global vernetzt sein würden, wie wir sie heute kennen, überforderte offenbar das Vorstellungsvermögen der Visionäre vom Dienst. Ihre Positronik genannten Supercomputer sind hallengroße Anlagen mit klackernden Relais, die Lochkarten auswerfen. Für Fortschritte bei der Miniaturisierung sorgt das Volk der Siganesen. Sie sind Nachkommen irdischer Kolonisten, die durch die Hyperstrahlung ihrer Sonne immer kleiner werden ("Im Jahre 3587 betrug die Durchschnittsgröße der Siganesen 76,49 mm") und somit ausgezeichnet winzige Dinge anfertigen können.

Die sogenannten Zukunftsvisionen waren, wie so oft, schlichte Erweiterungen der Gegenwart. "Gegenwartsliteratur handelt von der Vergangenheit, Zukunftsliteratur von der Gegenwart", resümiert ein Science-Fiction-Verleger. Rick Berman, der lange Jahre zusammen mit dem Autor Gene Roddenberry Produzent von Star Trek war, wies mal darauf hin, dass er einen Laptop habe, der dünner sei als der von Captain Janeway aus Star Trek: Voyager. Schon William Shatner alias Captain Kirk war Mitte der Sechzigerjahre bei den Dreharbeiten zur ersten Staffel nicht entgangen, dass die Außerirdischen gern Miniröcke und Gogo-Stiefel zu tragen schienen ("Wir werden von einem fremden Planeten angezogen").

Um besonders phantastische Einsatzkräfte handelt es sich bei Perry Rhodans sogenanntem Mutantenkorps. Die Mitglieder entsprechen, auch wenn sie nicht in farbenfrohen Trikots durch die Luft zischen, den Superhelden des Marvel-Universums und teilen mit ihnen die Herkunft paranormaler Begabungen wie Telepathie, Telekinese oder Hellsehen: Ihre Gene sind zumeist infolge von Atom- oder Laborunfällen mutiert.

Ende des 20. Jahrhunderts waren Dinge wie Gedankenlesen oder Bewegung per Geisteskraft rein fiktive Fertigkeiten, etwas für esoterische Angeber. 1972, zur Blütezeit des Kalten Kriegs, erschien der Bestseller "PSI" der parapsychologisch angehauchten Autorinnen Sheila Ostrander und Lynn Schroeder, in dem auch Mutmaßungen über die einschlägigen Forschungen hinter dem Eisernen Vorhang angestellt wurden. "Nicht auszuschließen ist", schrieb damals der Spiegel, "dass die Sowjets, wie die Amerikaner, Telepathie als Kommunikationsmittel für Raumschiffe und U-Boote erproben." Die Aufregung war groß, denn die Amerikaner wollten kein zweites Mal mit einer Technologie ins Hintertreffen geraten, so wie es ihnen mit der Raumfahrt passiert war.

Dann wurde PSI machbar. Kostengünstiges Equipment zur Messung von Gehirnströmen und Fortschritte in der Signalverarbeitung machten Experimente zur Gedankensteuerung auch für interessierte Enthusiasten zugänglich. 2004 genehmigte die amerikanische Gesundheitsbehörde dann die ersten vier klinischen Tests, bei denen Gelähmten erfolgreich ein BrainGate genanntes Hirn-Computer-Interface der Firma Cyberkinetics eingepflanzt wurde. Ein zwei mal zwei Millimeter großer Chip mit 100 Elektroden wurde dazu in die für Bewegung zuständige Region der Hirnrinde implantiert, die sich über dem rechten Ohr befindet. Über ein aus dem Schädel führendes Glasfaserkabel wurden die kontaktierten Neuronen anschließend mit einem Computer verbunden. Das System ermöglicht es einem Menschen, der dazu sonst nicht in der Lage wäre, einen Computer oder einen Roboterarm per Gedankenkraft zu steuern, Schalter zu betätigen und per E-Mail zu kommunizieren. Medizintechnik ist ein entscheidender Bereich, wenn es darum geht, solcherart Gruseltechnologien zu Akzeptanz zu verhelfen.

Wenn die Gegenwart immer mehr dem ähnelt, was vor noch nicht allzulanger Zeit pure Science Fiction war – was hält dann die Zukunft noch bereit? Würde ein Mensch des 18. Jahrhunderts durch ein Zeitloch in ein heutiges Wohnzimmer fallen, er wäre umgeben von schierer Magie. Gespräche und Bilder aus allen Fernen fließen rätselhaft herbei. Mit Zauberhand werden wundersame Fenster an kleinen Kästen bedient, die aus sich selbst zu leuchten vermögen wie der geheimnisvolle Karfunkelstein. Für uns ist es Alltag im Kommunikationszeitalter, Signale auf großen und kleinen Displays. Unspektakulär.

(bsc)