Story: Berge aus Wasser

Wir schreiben das Jahr 2050. Überall auf der Welt werden wieder große Pyramiden gebaut – zur Trinkwassergewinnung.

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Von
  • Peter Glaser

2042 hatten palästinensische Materialforscher überraschend eine alte, durchaus obskure Theorie über die Funktion der altägyptischen Pyramiden mit Hilfe neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse als auch Materialien gewissermaßen revitalisiert – nämlich, dass die Pyramiden einmal der Wassergewinnung gedient hätten. Mit einer mikroelektronisch legierten, hyperhygroskopischen Substanz beschichtet und verfugt, funktionieren die eindrucksvollen Bauwerke nun als riesige Kondensatoren, die große Mengen reinen Trinkwassers aus der Luft ernten. Dass sich scheinbar esoterische Annahmen auch ohne Esoterik erklären lassen können, hatte sich schon bei anderen Gelegenheiten oder sagen wir: eigentlich immer gezeigt.

So wurde lange von einer geheimnisvollen "Pyramidenenergie" gemunkelt, die – auch unter maßstabsgetreuen Pyramidenmodellen – dazu führen sollte, dass beispielsweise stumpfe Rasierklingen wieder scharf werden, was sich auf Materialermüdung versus Dehydration zurückführen lässt. Man kann das unter dem Elektronenmikroskop gut erkennen. Das Gefühl einer abstumpfenden Klinge verursachen Wassermoleküle, die sich zunehmend in die anfangs militärisch geordneten Stahlmolekülreihen der Klinge drängeln. Lässt man eine Rasierklinge ein paar Wochen ruhen, wird sie übrigens, was ungeduldige Pyramidenanschärfer überraschen wird, von ganz alleine wieder scharf.

Die Funktion der neuen, großen Wasserfabriken jedenfalls ist abhängig von ihrer Pyramidenform und einem dadurch verursachten Resonanzphänomen. Es ermöglicht als Katalysator das Zusammenwirken der Hülle mit dem extrem wasserliebenden Trägermaterial. Vor allem in Küstennähe geben sie nun der Landschaft einen neuen Charakter, ähnlich der großen Windspargel, die um die Jahrtausendwende zu sprießen begonnen hatten.

Gewaltige Mengen an Wasser durchströmen die Atmosphäre. Etwa 165.000 Tonnen Wasser pro Sekunde fließen als Luftfeuchtigkeit aus den Tropen, wo die Verdunstung aus den Meeren am größten ist, in die gemäßigten Breiten. Ein Kubikkilometer Luft enthält zwischen 10.000 und 40.000 Tonnen Wasser – ein immenses Potenzial, das sich dank der Pyramiden-Wasserwandler nun im industriellen Maßstab abschöpfen lässt. Laut Unicef hatten noch Anfang der 2020er-Jahre weltweit rund 750 Millionen Menschen keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Studien prognostizierten schon damals einen stark steigenden Energie- und Wasserverbrauch für die Region zwischen Marokko und dem Iran, nicht zuletzt durch die energieaufwendige Meerwasserentsalzung.

Zuvor hatten Großprojekte darauf hingearbeitet, Energiebedarf in den sonnenreichen Regionen mit forcierter Solartechnik zu decken und noch Strom für den Export in die Industriestaaten verfügbar zu haben. Wirtschaftliche und multinationale Probleme, etwa beim Bau der milliardenteuren Leitungstrassen in den Norden, hatten die Umsetzung der Pläne, die sich in den ersten Jahren noch wie ein Selbstläufer gelesen hatten, immer wieder verzögert und zu Stückwerk zerfallen lassen. In dieser schwierigen Situation hatte sich die Pyramiden-Technologie zur Wassergewinnung als unerwarteter Glücksfall erwiesen.

Sie brachte neuem Wohlstand in die Wüstenregionen und führte zu einer "Grünen Revolution". Aber nicht nur die Küstengebiete verwandelten sich in blühende Landschaften. Auch einige der tiefsitzendsten Probleme der Region, die man jahrzehntelang für unlösbar gehalten hatte, wurden plötzlich handhabbar. Die Möglichkeit, große Mengen Wasser zu beziehen, ohne seine regionalen oder nationalen Nachbarn zu beeinträchtigen, verschoben das Machtgefüge. Die Wasserpyramiden wurden zu Symbolen der Unabhängigkeit.

Viele der Landstriche, in denen man sich mit Begeisterung auf die neue Weise der Wassergewinnung stürzte, waren zuvor von der Wasserfracht eines Flusses abhängig gewesen – und oft von Regierungen, welche die Vorherrschaft über dessen Nutzung für sich beanspruchten. Bereits die Ankündigung, einen Staudamm an einem Fluss wie dem Jordan, dem Nil oder Euphrat und Tigris errichten zu wollen, konnte zu Kriegsdrohungen führen. Die Flüsse waren die zentralen Lebensadern der Region und jeder Versuch, die Kontrolle über sie auszuweiten, wurde als existentielle Bedrohung angesehen.

Die im positiven Sinn lokal beschränkten Wasserpyramiden entspannten die politische Situation. Der autonome Zugriff auf das kostbare Nass macht viele Gebiete erstmals unabhängig von vormals wassermächtigeren Nachbarn. Die sahen sich im Gegenteil dazu veranlasst, statt weiterhin sozusagen Wasser-Druck auszuüben, Gespräche aufzunehmen, die zuvor unter ungleichen Machtverhältnissen oder eben überhaupt nicht stattgefunden hatten.

Im digitalen Zeitalter spielt die Größe von Staaten immer weniger eine Rolle. Auch ein kleiner Staat kann sich nun algorithmische Vorteile verschaffen. Die Technologie der Wasserpyramiden trägt dazu bei, dass die Probleme, von denen es besonders in Nahost immer noch jede Menge gibt, ein wenig mehr auf Augenhöhe verhandelt werden, beflügelt von einer erfreuten Wirtschaft und durchströmt von einer unsichtbaren weiteren Art von Wasser, dem Durst nach Frieden.

(bsc)