Was blockiert die Gesellschaftstransformation?

"System Change, not Climate Change!", aber wie?

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"System Change, not Climate Change!" ist eine in letzter Zeit häufig gehörte Parole. Vielen erscheint gegenwärtig eine grundlegende Gesellschaftsveränderung nicht nur angesichts der ökologischen Krise als anstrebenswert.

Wie der Weg aus der gegenwärtigen Gesellschaft in eine andere Gesellschaft aussehen kann, darüber herrscht tiefe Ratlosigkeit. Dieser Artikel stellt verschiedene Blockaden der Gesellschaftstransformation dar.

1. Das Interesse von Lohnabhängigen am Erhalt ihrer Arbeitsplätze

Wer für eine grundlegende Gesellschaftsveränderung eintritt, sieht sich mit der Hierarchie der Interessen von Lohnabhängigen konfrontiert. Im Kapitalismus ist das Interesse am Erhalt des Arbeitsplatzes dem Lohninteresse, dieses wiederum den Belangen der Umwelterhaltung übergeordnet. Die Arbeitenden kommen in die Bredouille der Selbstfeindschaft. Um "ihrer" Arbeitsplätze willen setzen sie sich bspw. für den Braunkohletagebau in der Lausitz ein, zugleich werden für diese Wirtschaft Dörfer vernichtet und das Klima verschlechtert.

Radikale Gesellschaftsveränderung heißt massiver Rückbau vieler Industrien. Zum Beispiel nutzt die gegenwärtige Verkehrspolitik der Automobilbranche, der Mineralölindustrie und Luftfahrtwirtschaft. Mit der Produktion der für diese Branchen einschlägigen Waren bzw. Dienstleistungen lassen sich mehr Profite erzielen als mit der Bereitstellung eines ökologischeren und gesamtgesellschaftlich kostengünstigeren Verbundsystems von mehr und besseren öffentlichen Verkehrsmitteln, öffentlich subventionierten (Sammel-)Taxis, Car-Sharing u.ä.

Die ökonomische Veränderung, die mit einer radikalen Gesellschaftstransformation einhergeht, betrifft auch eine Weltwirtschaftsordnung, in der ein Land wie Deutschland ökonomisch nur dadurch gut dasteht, dass es hochwertige Maschinen und Autos in viele andere Länder exportiert ("Exportweltmeister").

Das setzt voraus, dass diese Länder nicht selbst dazu in der Lage sind, solche Produkte in gleicher Qualität oder zu gleichem Preis herzustellen. Der Erfolg der hiesigen Exportwirtschaft setzt zwar Nachfrage aus dem Ausland voraus, beruht aber auf der Schwäche der ausländischen Konkurrenz. An deren Erstarkung haben deutsche Lohnabhängige wenig Interesse.

2. Angst vor Desorganisationschock bei radikalen Veränderungen

Bereits die ökologisch erforderliche Verringerung des Konsums führt zu massiven Turbulenzen. Die Autorin Ulrike Herrmann spricht in einer Radiosendung davon, gewiss lasse sich auf die "die Hälfte aller Güter [...] verzichten. Aber der Witz ist, darum geht es ja gar nicht. Es geht nicht um den Konsum als Konsum. Obwohl wir immer diesen Eindruck haben. Sondern es geht um die Produktion. [...] Und wenn man nicht mehr konsumiert, dann bricht die Produktion zusammen, und dann bricht das Gesamtsystem zusammen. Das ist dann nicht so, dass nur VW zusammenbrechen würde. Sondern es wäre dann am Ende so, dass sich die Frage stellt, wie man eine Krebstherapie finanzieren soll" (Herrmann 2014, S.18 siehe weiter unten "Verwendete Literatur").

Eingriffe aus ökologischen Gründen seien erforderlich. Aber: "Wenn man sehr massiv in dieses System eingreift, wäre der einzige Effekt, dass es wirklich einbricht. Und das wäre ein chaotischer Prozess, den man sich auch nicht friedlich vorstellen darf. Da wären Verluste zu verkraften" in einer Größenordnung, die die "Leute" "panisch" mache (Ebd.).

Aus der Angst vor großen Wirren und Risiken der Systemtransformation resultieren Vorbehalte ihr gegenüber. Altfränkisch gesprochen: Das "Hemd" bleibt den Betroffenen näher als der "Rock". Selbst wenn eine substanziell andere - z.B. ökologischere - Gesellschaft von einer Bevölkerungsmehrheit gewollt wäre, wie lange hält dieser Wille, wenn der Weg der grundlegenden Veränderung durch Jahre bis Jahrzehnte von Problemen führt und der Übergang die eigene Lage zunächst einmal nur verschlechtert (vgl. Przeworski 1990, 141f.)?

In dieser Übergangszeit funktionieren die alten gesellschaftlichen Strukturen nicht mehr und die neuen noch nicht. Individuen haben einen endlichen Zeithorizont. Sie orientieren sich praktisch weniger an dem, was sie "eigentlich" für anstrebenswert erachten, als an dem, was ihre nächsten 10-20 Jahre betrifft. Die politischen Gegner der Gesellschaftstransformation werden die Probleme der langen Übergangszeit ausnutzen, um gegen die grundlegende Veränderung Stimmung zu machen.

3. Das Dilemma des Reformgradualismus

Um die Bevölkerung nicht zu verschrecken, setzen Transformationsstrategien häufig anfänglich auf zunächst leichte Veränderungen, die dann nach und nach in ihrer Eingriffstiefe und ihrem Umfang gesteigert werden sollen. Dieses Vorgehen setzt voraus, dass die Gegenseite nicht frühzeitig mit Eskalation reagiert ("Wehret den Anfängen").

Der Gradualismus verunmöglicht sich also selbst: Auf Grund der mit Sicherheit einzukalkulierenden ökonomischen Reaktionen des Kapitals auf die ersten Schritte müssen die zweiten, dritten etc. Schritte gleichzeitig mit oder nach dem ersten Schritt erfolgen, soll der erste Schritt nicht wirkungslos bleiben. Analoges gilt für die politische Ebene.

Heimann, Zeuner 1974, S. 142

Das Dilemma lautet also: "Verlangt eine teilweise Reform und sie halten euch die Verkettung und die Wechselwirkung der Gesamtorganisation entgegen. Verlangt die Umwälzung der Gesamtorganisation, und ihr seid destruktiv, revolutionär, gewissenlos, utopisch und übergeht die partiellen Reformen. Also Resultat: lasst alles beim alten" (Marx, MEW 5, 423).

Radikale Veränderungen, die auf ein Land beschränkt bleiben, verschlechtern dessen ökonomische Position auf dem fortexistierenden Weltmarkt bzw. führen zum Abbruch von Handelsbeziehungen, zu Boykott u. ä.

4. Probleme, die sich aus der Teilnahme am Parlament ergeben

Eine radikale Oppositionspartei wird im Rahmen des Parlamentsbetriebs danach beurteilt, ob sie konstruktiv mitarbeitet. Das heißt, sich Sorgen um das Funktionieren der Systeme zu machen und nicht Sorgen wegen ihres Funktionierens. Damit verbindet sich die Maßgabe, sich in eine vorfindliche Konkurrenz einzustellen und nach ihren Maßstäben sich als 'realitätstüchtig' zu bewähren, und zu der Vernunft zu finden, die sich unter diesen Verhältnissen ergibt. Die "ernstzunehmende" Oppositionspartei soll sich als potentiell regierungsfähig bewähren.

Wer dieses Prädikat zugesprochen bekommen möchte, muss Regierungspraxis vorweisen, ohne sich von ihr durch die lästige Frage abhalten zu lassen, inwieweit in ihr überhaupt eigene Inhalte durchsetzbar sind. Lehrjahre sind eben keine Herrenjahre. Der Juniorpartner ist Kellner und nicht Koch. Die entsprechende Ochsentour geschieht subjektiv mit der Hoffnung auf spätere eigene Dominanz in der Regierung. Faktisch ereignet sich derweil ein gegensinniger Prozess: "Die Verwandlung des Menschen durch das Amt geschieht schneller als die Verwandlung des Amts durch den Menschen" (Joschka Fischer). (Für eine ausführlichere Darstellung dieses Prozesses vgl. Creydt 1999a.)

Die Oppositionspartei verliert den Charakter einer Bewegungspartei, wenn sie denn vorher überhaupt eine war (wie z. B. die "Alternative Liste" in Westberlin). Das verweist ihr Gelingen wiederum stärker auf den Raum des Parlaments. Die Engführung von Politik auf Regierungsbeteiligung schwächt die Verhandlungsposition in Koalitionsgesprächen. "Die anderen Parteien spüren, dass die Grünen zu jedem Kompromiß bereit sind, um in die Regierung zu kommen - und nutzen dies weidlich aus" (Tiefenbach 1998, 184). Paul Tiefenbach war Abgeordnete für die Grünen im Bremer Landesparlament.

In Spanien, Italien, Frankreich, aber auch in anderen EU-Staaten wurde beispielhaft demonstriert, wie schnell sich Mitte-Links-Bündnisse nicht nur Wahlniederlagen einhandeln können, sondern die beteiligten Linksparteien im Anschluss oder schon während der Regierungszeit sowohl drastisch an Akzeptanz als auch an Mitgliedern verlieren.

Werner 2003, S. 83

Harald Werner war lange Zeit Mitglied des Parteivorstands von PDS bzw. Linkspartei. "Als Mitterand 1981 die Kommunisten in die französische Regierung aufnahm, war ich auch irritiert. Aber Willy Brandt hatte schon recht, als er fragte: 'Wo steht eigentlich geschrieben, dass die in einer solchen Konstellation nicht auch verlieren können?' Und sie haben verloren" (Egon Bahr 1999, 1312).

Der politisierende Verstand lebt vom Wechsel zwischen der Selbstzuschreibung eigener Wirkmächtigkeit und einer vermeintlich abgeklärten Nüchternheit. Letztere erlaubt es, sich gegen jedwede Kritik zu immunisieren. Immer lässt sich sagen, Kritiker unterschätzen die 'Sachzwänge'. Der politisierende Verstand (zu dessen Kritik vgl. Creydt 2019) interpretiert die tatsächliche Politik als Kompromiss zwischen dem eigenen Ideal und den als unabänderlich erscheinenden 'Sachzwängen'. Probleme gelten dem politischen Positivismus als Resultat idealbeflissener und realitätsfremder Überansprüchigkeit. Dem Polit-Idealismus wiederum erscheinen Probleme als Ausdruck des betriebsblinden Mangels an Idealen.

Im Buch von Harald Wolf, dem langjährigen Berliner Finanzsenator (PDS/Linkspartei), über die Berliner Koalition von SPD und PDS/Linkspartei heißt es: "'Die Erwartungen an eine linke Partei gehen über eine Bewahrung des Status quo hinaus.' Die PDS habe Handlungsspielräume suggeriert, 'die so nicht existierten'. Zustimmend zitiert Wolf aus einem Buch über die Grünen den Satz, Regieren sei in der Regel ein systematisches Enttäuschen von Erwartungen, die man selbst aus der Opposition heraus geschaffen habe - und derentwegen man gewählt worden sei" (FAZ 27.6. 2016).