"Half-Life Alyx" im Test: So schön kann VR sein

So gruselig und doch so schön: Das erste neue Half-Life seit 12 Jahren fühlt sich intensiv an wie kein VR-Titel zuvor. c’t hat "Half-Life: Alyx" durchgespielt.

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"Half-Life Alyx" im Test: So schön kann VR sein
Lesezeit: 10 Min.
Von
  • Timo Schmidt
  • Jan-Keno Janssen
Inhaltsverzeichnis

"Half-Life: Alyx" ist nicht nur Spiel, sondern die erste echte Virtual-Reality-Killerapp – das war bereits vor dem Erscheinungstermin sonnenklar: Schon die Ankündigung des VR-exklusiven Titels im November sorgte dafür, dass die meisten VR-Headsets nicht mehr zu bekommen waren, bis heute sind Oculus Quest, Rift S und Valve Index bei den meisten Händlern ausverkauft. Aber kann das erste Half-Life seit 12 Jahren die hohen Erwartungen erfüllen? Und ist es wirklich ein echtes Half-Life-Spiel? Ist es gerechtfertigt, Millionen Half-Life-Fans ohne VR-Headset mit einem VR-exklusiven Spiel zu verärgern? Wir haben mehr als 15 Stunden mit dem Spiel verbracht und können alle Antworten ruhigen Gewissens mit "ja" beantworten.

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Schon die allererste Szene ist nicht weniger als atemberaubend: Man steht auf einem Balkon und schaut auf City 17, einem der wohl berühmtesten Orte der Spielegeschichte. Im Vordergrund bröckelt der Putz von den stalinistisch anmutenden Gebäuden, im Hintergrund sticht die 2,5 Kilometer hohe Zitadelle durch die Wolken. Alles lebt: Vögel und Drohnen fliegen herum, unten patrouillieren Combine-Soldaten – und was ist das da für ein komisches Flugzeug dahinten? Kaum ein VR-Titel zuvor erreichte bislang eine derartige Präsenz: Man spielt kein Computerspiel, sondern man steht da wirklich, auf dem Balkon in City 17. So gut wie alles, was herumliegt, lässt sich anfassen, zum Beispiel die Bierflasche mit den kyrillischen Buchstaben auf dem Etikett. Man kann sie sich vor die Augen halten, sogar die kleingedruckte Zutatenliste lässt sich erkennen. Wirft man die Flasche mit einer beherzten Armbewegung vom Balkon, prallt sie realistisch von einer Hauswand ab und zerschellt mit einem leisen Klirren auf dem Asphalt. Geht man vom Balkon ins Gebäude und von da in den Keller, meint man einen modrigen Geruch wahrzunehmen; so gut trickst die extrem detaillierte Welt das Gehirn aus.

Überall liegen Dinge in der Gegend herum, mit denen man interagieren kann; zum Beispiel Filzstifte.

Obwohl "Gehen" eigentlich nicht das richtige Wort ist: Um Übelkeit zu vermeiden, ist das Spiel standardmäßig auf Teleportieren ("Blink" im Menü) eingestellt. Dabei zeigt man mit dem linken Handcontroller wie mit einem Laserpointer an den Ort, an den man will, drückt den Analog-Stick nach vorne und lässt los. Während "Blink" den Teleport mit einer kurzen Schwarzblende visualisiert, zeigt die Option "Shift" eine extrem verkürzte Laufsequenz. Für Simulatorkrankheit-immune Menschen gibt es aber auch die "Continuous"-Option, in der man mit dem Analogstick wie in konventionellen Spielen herumläuft. Hier lässt sich obendrein einstellen, ob die Laufrichtung von der Hand oder von der Blickrichtung bestimmt wird. Einem Tester hat "Shift" am besten gefallen (weil es das Raumgefühl nicht so zerstört wie "Blink", aber nicht so auf den Magen geht wie "Continuous"), ein anderer kam mit "Continuous" am besten klar.

Auf Wunsch lassen sich deutsche Untertitel einblenden, eine deutsche Tonspur gibt es nicht.

Dank im Raum erfasster Controller fällt die Maus-Tastatur-Barriere zwischen Spiel und Mensch nahezu komplett weg: Alles wird mit natürlichen Hand- und Körperbewegungen gesteuert: Man duckt sich, indem man sich duckt, man wirft etwas, indem man es wirft. Das Ganze geht so weit, dass auch die Waffen realistisch simuliert werden: Um eine Waffe nachzuladen, muss man erst per Knopfdruck das leere Magazin herausfallen lassen, mit einem Griff auf den Rücken (also in den virtuellen Rucksack) ein neues Magazin herausholen, es in die Waffe stecken und den Schlitten zurückziehen. Das fühlt sich fantastisch an, sorgt in hitzigen Situationen aber auch für Hektik. Gezielt wird klassisch über Kimme und Korn.

Wir haben das Spiel auf zwei Systemen getestet: Einmal auf einem AMD 3700X mit GeForce RTX 2070 Super und einmal auf einem Ryzen 7 2700x mit Geforce RTX 2080 Ti. Auf beiden lief Alyx mit vollen Details ("Ultra") meist flüssig, auf "High" gab es nie Ruckler – lediglich beim Nachladen eines neuen Spielbereichs zuckelte das Bild für ein paar Sekunden. Gespielt haben wir mit Oculus Rift S und Oculus Quest, letztere war mit einem Standard-USB-Kabel mit dem PC verbunden (Quest Link). Eine vor Monaten bestellte Valve Index kam nicht rechtzeitig zum Test an.

Die Welt von Alyx ist extrem detailliert modelliert.

Die Interaktionsmöglichkeiten mit der Umgebung sind deutlich besser als in anderen VR-Spielen, aber nicht ganz so kleinteilig wie beispielsweise im Indie-Titel "Boneworks". Zwar lassen sich beinahe alle Gegenstände bewegen oder aufheben – ein Klettern an der Geometrie des Levels fällt jedoch (außer an Leitern) flach. Statt Experimente setzt Alyx auf polierte Spielbarkeit und dichte Atmosphäre. Zwar gibt es auch in Alyx die für VR-Spiele typischen Glitches, etwa die gelegentliche Hand in der Wand, doch auch die halten sich im Rahmen. Auch scheinen die Grafikeffekte der Explosionen von Fässern und Granaten nicht sonderlich viel Liebe abbekommen zu haben. Aber das ist wirklich Jammern auf hohem Niveau.

Dass Half-Life: Alyx, so wie viele Spieler derzeit fordern, auch als 2D-Variante erscheint, ist unwahrscheinlich. Eine klare Absage dürfte das jedoch nicht zwangsläufig bedeuten, denn Valve hat im Vorfeld ein umfangreiches Modding-Toolkit namens Hammer für das neue Spiel angekündigt. Damit sollen Spieler neue Inhalte und Geschichten für den Steam-Workshop produzieren können. Das bietet viele Chancen: Vielleicht macht jemand eine Mod für 2D-Spieler, vielleicht gibt es aber auch neue VR-Spiele in der Alyx-Welt – Counter-Strike war schließlich einst auch nur eine Half-Life-Mod.

Anders als die bisherigen Hauptteile erzählt Half-Life: Alyx seine Geschichte aus der Perspektive der jungen Alyx Vance, Tochter von Eli Vance – seines Zeichens Wissenschaftler und guter Freund von Gordon Freeman. Der VR-Trip nach City 17 spielt augenscheinlich zwischen den Teilen 1 und 2.

Zu Beginn des Spiels erlebt man eindrucksvoll, wie das Regime die Bürger unterdrückt und wie sich Widerstand formiert. Recht früh erhält die Protagonistin sogenannte Gravity Gloves, mit denen Gegenstände aus der Ferne herangezogen werden können – so spart man sich nerviges Laufen und Bücken. Die Handschuhe sind eine nette Anspielung auf die Gravity Gun aus Teil 2, dienen aber auch als Interface-Element: Hält man sich den linken Handschuh vors Gesicht, kann man Infos zu Lebensenergie und Munitionsvorrat ablesen.

Der linke Gravity-Handschuh dient nicht nur zum Heranholen von entfernten Objekten, sondern zeigt auch Lebensenergie und Munition.

Während Alyx einem Geheimnis der Alien-Invasoren nachgeht und dabei nebenbei um ihr Überleben kämpft, wird der Spieler liebevoll an vergangene Half-Life-Zeiten erinnert. Waffen, Lebenserhaltungs-Stationen, ja sogar das Aufbrechen von Munitions-Kisten klingen genau wie damals. Die verbesserte Source-Engine arbeitet in VR sehr wirkungsvoll: So zuckt man zusammen, wenn einem eine spinnenartige Headcrab ins Gesicht springt oder ekelt sich, wenn man einen zerfledderten Zombie-Körper zur Seite räumen muss. Besonders Igitt: Die Lebenerhaltungs-Stationen erzeugen Energie, indem sie ein Alien-Tierchen wie eine Zitrone ausquetschen – mit entsprechenden Geräuschen. Trotz Splatter-Einlagen ist Alyx keine Baller-Orgie, sondern ein Survival-Shooter; besonders in engen Gängen spürt man die Angst permanent im Nacken.

Nicht nur Grafik und Immersion sind im Vergleich zu den Vorgängern stark verbessert worden, sondern auch der Sound: Dank Steam-Audio-Engine klingen Geräusche extrem räumlich und realistisch. Eine wohlige Gänsehaut macht sich breit, wenn man zum ersten Mal seit Jahren wieder die charakteristisch verzerrten Funksprüche der Combine-Soldaten vernimmt.

Die Laser-Physikrätsel sind spaßig und später ziemlich kniffelig.

Alyx ist aber (nicht nur) Technikdemo, sondern auch ein tolles Spiel: Die Story ist bis zum Ende spannend und abwechslungsreich inszeniert. Begegnungen mit (alten) Bekannten, clevere Rätsel, Schleichpassagen und hektische Ballerphasen – Alyx spielt sich nahezu genauso wie die alten Half-Lifes, nur mit viel mehr Immersion. Die einzige neue Spielmechanik sind die Waffenupgrades: Überall in der Welt sind Harzrollen (nicht zu verwechseln mit Harzer Rollen) versteckt, die denen man seine Waffen verbessern kann, zum Beispiel mit einem Laservisier. Die Suche nach den Rollen nervt anders als in anderen Spielen nicht: Man hat ja eh Interesse daran, sich die schön gestaltete Welt genau anzuschauen. Um alle Rolle zu finden, muss man manchmal auch kleine Minirätsel lösen – schön.

Nach etwa 12 bis 15 Stunden ist man dann durch die Kampagne gekommen und kann sich an einem höheren Schwierigkeitsgrad wagen: Feinde halten mehr Treffer aus, Munition ist rarer.

Die Combine nutzen jetzt Propaganda-Projektionen auf Hauswänden.

Mit Half-Life: Alyx hätte Valve die Rückkehr ins Half-Life-Universum nicht besser gelingen können. Das gewohnt geheimnisvolle und dystopische Setting entfaltet in Kombination mit dem Medium Virtual Reality seine einzigartige Wirkung ganz besonders. Die Spielwelt ist zuweilen unglaublich immersiv und bedrohlich; die Kämpfe und Rätsel angenehm herausfordernd. Das technische Gewand der verbesserten Engine begeistert und die erzählerische Gestaltung befindet sich ebenfalls auf einem sehr hohen Niveau.

Zwar wurde kein gänzlich neues Kapitel der Half-Life Geschichte aufgeschlagen, da Alyx zwischen den ersten beiden Teilen angesiedelt ist – doch einige offenen Fragen finden nun endlich ihre Antwort und andere gänzlich neue Fragen entstehen. Zusätzliche Inhalte dürften dank des angekündigten Hammer-Editors auch nicht allzu lange auf sich warten lassen; viel Potenzial für eine glorreiche Zukunft der Marke. Eine Warnung allerdings: Das Spiel ist extrem intensiv und teilweise auch körperlich anstrengend. Man kann es nicht mal eben so wegspielen. Wer sich darauf einlässt, wird unvergessliche Momente erleben – und literweise Adrenalin vergießen. (jkj)