Der Spiegel: Merkel soll Nawalny in einer "geheimen Aktion" besucht haben

Bild Alexey Nawalny: Evgeny Feldman / CC-BY-SA-4.0 Bild Angela Merkel: FinnishGovernment / CC-BY-2.0

Sollte dies zutreffen, muss man von einem hohen politischen Interesse am Fall Nawalny ausgehen

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Der mutmaßliche Giftanschlag auf den russischen Oppositionspolitiker Alexei Nawalny erhitzt noch immer die Gemüter, zumal wirkliche Aufklärung weiter blockiert wird. Die Bundesregierung laviert zwischen Anschuldigungen aufgrund nicht näher genannter Befunde eines Bundeswehrlabors und von Militärlaboren in Schweden und Frankreich, die einen Nowitschok-Kampfstoff nachgewiesen hätten, ohne aber genauer zu werden, und Sanktionsdrohungen, die man aber wohl (noch) nicht umsetzen will.

Das Ergebnis der OPCW, die Proben von Nawalny - und der ominösen Wasserflasche? - entnommen hat, wird entscheidend sein. Erwartet wird es bis Ende der Woche. Die Bundesregierung hatte die OPCW nur nach Artikel VIII 38 um technische Hilfe gebeten, nicht aber - obwohl man Richtung Russland mit dem Finger zeigt - eine Untersuchung nach Artikel IX (Ersuchen um Klarstellung). Wie weit man von der OPCW, die überdies mit der Untersuchung des Giftgasangriffs in Duma unter Kritik geraten ist, einseitig zu sein und Druck auf die Inspektoren auszuüben, wirklich Aufklärung erwarten kann, ist ungewiss.

Zumindest im Skripal-Fall war im öffentlichen Teil des OPCW-Berichts lediglich von einer "toxischen Chemikalie" gesprochen, die identisch mit derjenigen sei, die das britische Militärlabor in Porton Down identifizierte hatte. Das bezeichnete die Chemikalie als ein Nervengift aus der Nowitschok-Gruppe, was die OPCW nicht übernahm. Um welches es sich handelte, ist noch immer nicht bekannt, man vermutet, es könnte A234 sein, das mit anderen Nowitschokgruppen seit Juni diesen Jahres auf der OPCW-Liste steht. Der Direktor des Militärlabors erklärte damals, man könne nicht sagen, woher das Nowitschok stamme, er könne nur versichern, dass es nicht aus seinem gut gesicherten Labor komme.

Man könnte spekulieren, dass der Anschlag auf Nawalny kurz nach Inkrafttreten der ergänzten Liste von wem auch immer durchgeführt wurde, weil es ein Zeitfenster bis zum 2. Oktober gibt. Dann muss der OPCW gemeldet werden, wo kleine Mengen der gelisteten Nowitschok-Verbindungen zu Forschungszwecken hergestellt und verwendet werden oder werden sollen. Ab 2021 sollen Inspektionen möglich sein. Man darf gespannt sein, ob die OPCW die Informationen veröffentlicht.

Aufklärung wird auf allen Seiten blockiert

Ohne nähere Angaben ist jedenfalls zweifelhaft, ob die Nowitschok-Verbindung auf der OPCW-Liste der verbotenen Kampfstoffe steht, aber auch ob es sich nicht nur um einen Cholinesterase-Hemmer handelt, die als Medikamente, Insektizide und als Kampfstoffe verwendet werden. Auffällig ist, dass sowohl bei Skripals als auch bei Nawalny das "Nowitschok" nicht tödlich wirkte, was in einem Fall Mitte der 1990er Jahre aber der Fall war, als sowohl die Zielperson als auch seine Sekretärin starben und mehrere andere Personen vergiftet wurden.

Die russische Regierung erklärt, in Russland habe man bei den Proben von Nawalny keine Spuren eines Gifts gefunden. Daher wurde nur eine Vorermittlung angesetzt, die Generalanwaltschaft blockiert aber ohne Beweise für eine Vergiftung, die von der Bundesregierung oder auch von den deutschen Ärzten an der Charité kommen müssten, wofür Anfragen und Rechtshilfegesuche gestellt wurden, eine Strafermittlung. Für die Einschaltung des UN-Sicherheitsrats sieht man auch keinen Grund. Fest steht jedenfalls, dass Nawalny, was auch immer der Grund seines Zusammenbruchs auf dem Flugzeug war, durch die schnelle Notlandung und Behandlung der russischen Ärzte gerettet wurde. Sie waren zunächst auch von einer Vergiftung ausgegangen und hatten Atropin wie die Charité-Ärzte verabreicht.

Wie es scheint, wird eine Zusammenarbeit zur Aufklärung vor allem von der Bundesregierung blockiert, die fordert, Russland müsse den Vorgang klären, ohne selbst bislang Beweise für einen Giftanschlag mit Nowitschok vorzulegen. Damit folgt sie dem Drehbuch der britischen Regierung im Skripal-Fall, die auch jede Kooperation verweigert hat. Da die russische Regierung den Part des Bösen spielt, hat der Westen damit bislang Erfolg gehabt. Weil Moskau aber auch nichts zur Aufklärung aktiv beiträgt und lediglich beteuert, bei Nawalny sei in Russland kein Gift entdeckt worden und Deutschland würde nicht liefern, aber ansonsten nichts zu wissen, obgleich Nawalnys sibirische Reise auf Schritt und Tritt überwacht und anschließend noch einmal rekonstruiert wurde, steckt der Vorgang fest, was vielleicht genau die Situation ist, die beide Seiten aufrechterhalten wollen.

"Solidarität der Bundesregierung mit Alexey Nawalny"

Wenn es denn stimmt, was der Spiegel berichtet, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel nicht nur persönlich aktiv war, um Nawalny nach Deutschland zu bringen und ihn unter hohen Sicherheitsvorkehrungen dort zu behandeln, sondern dass sie ihn auch während der Zeit im Krankenhaus "in einer streng geheimen Aktion" besucht hat. Das belege "die Solidarität der Bundesregierung mit Alexey Nawalny", so der Spiegel, der auch weiß, dass "Merkel sich täglich über den Zustand Nawalnys und die Fortschritte der Ärzte unterrichten" ließ. Das belegt aber auch das politische Interesse am Fall Nawalny, das schon zu Beginn deutlich wurde, als er wie ein Gast der Bundesregierung behandelt wurde.

Wenn im Spiegel gesagt wird, der Krankenausbesuch der Kanzlerin zeige, "dass Berlin in dem Fall nicht nachgeben und die wahren Hintergründe herausfinden will", dann dürfte das angesichts der Strategie der Bundesregierung, Beweise und Einzelheiten nicht zu veröffentlichen, irreführend sein. Sollte es stimmen, dass Merkel Nawalny besucht hat, dann hat sie damit eher bewirkt, dass das Misstrauen verstärkt wird, ob alles mit rechten Dingen zugeht.

Update: Nawalny bestätigte den Besuch, würde ihn aber gerne nicht geheim, sondern privat nennen, was es allerdings auch nicht besser macht. Die Formulierung war wohl abgesprochen, denn auch Regierungssprecher Seibert sprach von einem privaten und keinem geheimen Besuch. Das Gespräch sei vertraulich gewesen. Wenn eine Bundeskanzlerin einen Oppositionspolitiker eines anderen Landes, das man beschuldigt, irgendwie mit der Vergiftung zu tun zu haben, am Krankenbett besucht, ist das allerdings kaum mehr privat zu nennen.

Nawalny, der eigentlich angekündigt hatte, sofort nach Russland zurückzukehren, wird nun erst einmal in die Reha in Deutschland gehen, was angeblich Wochen dauern könnte. In Russland wurden wegen eines Rechtsstreits hingegen vor wenigen Tagen die Konten von Nawalny und seiner Organisation FBK gesperrt. Die letztes Jahr als "ausländischer Agent" bezeichnete Organisation wurde von einem Gericht zu einer hohen Schadensersatzstrafe verurteilt. Nawalny wollte deswegen eine andere Organisation gründen. Nawalny konnte letztes Jahr eine geplante Partei mit dem Namen "Russland der Zukunft" nicht gründen, weil es bereits eine andere Partei desselben Namens gab. Die wurde jetzt vom Obersten Gericht am 21. September aufgelöst, weil sie nie an Wahlen teilgenommen hat. Nawalnys Rechtsanwalt Ivan Zhdanov erklärte, es bestünden keine Pläne mehr, eine Partei unter diesen Namen anzumelden. Wegen des Verbots im letzten Jahr habe man sich an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gewandt.