Ein großes Schweigen geht zu Ende

Bild: Matt Seymour /Unsplash

Die Coronamaßnahmen geraten zunehmend in die Kritik

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Die alten Reflexe funktionieren noch. Der Liedermacher Hans Söllner ist seit Jahren für seine anarchistische Haltung bekannt. Besonders der bayerische CSU-Staat stand oft im Fokus seiner harten und ganz gewiss nicht ausgewogenen Kritik. Warum sollte man auch bei einem Sänger und Kabarettisten jedes Wort auf die Goldwaage legen? Schließlich kandiert Söllner nicht für ein politisches Amt, sondern ist Künstler.

Doch jetzt hat Söllner auch paar deftige Bemerkungen zur Corona-Krise gemacht und schon ist die Aufregung groß und selbst der Trikont-Verlag, bei dem Söllner seit Jahren unter Vertrag ist, sah sich zu einer Distanzierung veranlasst. Im Deutschlandfunk wurde gleich gefragt, ob Söllner nun bei den Rechten angelangt ist. Bereits vor einigen Monaten fragte die Süddeutsche, ob Söllner bei den Verschwörungstheoretikern gelandet ist.

Wer sich allerdings auf Söllners Facebookseite umguckt, wird dann doch Statements gegen Rassismus und für Flüchtlingshilfe finden und zwischendrin immer wieder deftige Worte zur Corona-Politik. Nicht wenige sind Perlen der Satire und sollten von Söllner bei seinen Auftritten vorgelesen werden: "Herr Lauterbach, setzen Sie eine Ganzgesichtsmaske auf. Ich kann sie nicht mehr hören und sehen."

Deutschlandfunk-Redakteure sind sehr irritiert

Das irritiert sicher manchen Kulturredakteur im Deutschlandfunk, aber bestimmt nicht Söllners Fans. Die verzeihen ihm manche nicht so gelungene Satire, das kommt schließlich vor. Dieser totalitarismustheoretische Satz gehört auf jeden Fall in die Kategorie weniger gelungene Satire: "Denunzianten, SA, Stasi und Gleichschritt und das passiert gerade. Man darf keine Vergleiche ziehen zum Dritten Reich. Aber das passiert gerade. Schaut euch um."

Die von Deutschlandfunk und Co. entfachte Aufregung dürfte sich aber bald wieder legen. Das liegt einmal an der Person von Söllner, der für seine derbe Satire bekannt und beliebt ist. Dass liegt aber auch daran, dass heute anders als noch im März eine viel offenere Diskussion über die Sinnhaftigkeit der Corona-Maßnahmen stattfindet. Der Linken-Gesundheitspolitiker Achim Kessler im Deutschlandfunk-Interview:

Ich finde, es ist einer der grundlegenden Fehler, dass die Bundesregierung die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie nicht mehr im Bundestag zur Diskussion stellt. Diese Hinterzimmer-Kungeleien der Kanzlerin mit den Ministerpräsidenten müssen aufhören, die müssen beendet werden. Wir müssen zurück zu einerseits demokratischen Entscheidungen. Wir brauchen aber auch eine öffentliche Debatte, die Transparenz herstellt über die Wirksamkeit der Maßnahmen. Und - das ist auch ein ganz wesentlicher Punkt - die Einschränkung von Freiheitsrechten dürfen nicht an den Parlamenten vorbei getroffen werden.

Achim Kessler, Deutschlandfunk

Nun ist Kesslers Position im Grund nur, dass er als Abgeordneter wenigstens gefragt werden will, wenn Freiheitsrechte eingeschränkt werden. Insgesamt aber plädiert Kessler für Aufklärung der Bevölkerung statt mehr autoritärer Staatlichkeit. Noch weiter ging Kesslers Parteifreund Wolfgang Albers in seiner Kritik. In einer Deutschlandfunk-Diskussion mahnte der Arzt und gesundheitspolitische Sprecher der Linken im Berliner Abgeordnetenhaus eine Neubewertung der Ergebnisse des Robert Koch Instituts an, sprach von Angstmache und forderte den Ausbau des Gesundheitssystems.

Sollte sich diese Akzentverschiebung in der Linkspartei durchsetzen, wäre das eine große Unterstützung für eine Kritik an den Corona-Maßnahmen, die sich nicht von rechts vereinnahmen lässt.

Menschenrechte in der neuen Normalität

Auch der Jurist Ralf Gössner, der seit Jahren in zivilgesellschaftlichen Gruppen aktiv ist, hat sich bei der Verleihung des Hans-Litten-Preises in seiner Rede zur aktuellen Situation geäußert und schon vorausgeschickt, dass er sich damit "auf vermintes Gelände" begibt:

Wie bereits angekündigt möchte ich noch auf das Thema "Menschenrechte und Demokratie im Ausnahmezustand" und in der "neuen Normalität" eingehen. Ich habe mich im Frühjahr sehr schwer getan, mich in diese Problematik einzumischen, Coronaabwehrmaßnahmen bürgerrechtlich zu hinterfragen und öffentlich Kritik zu üben - und zwar wegen der durchaus realen Befürchtung, am Ende als "Coronaverharmloser" dazustehen, als unsolidarischer "Grundrechtsfreak" oder verantwortungsloser Freiheitsapostel.

Rolf Gössner

Da ging es den Juristen wie vielen kritischen Linken, die vor einer bisher unbekannten Situation standen und sich zunächst orientieren mussten. Doch angesichts der Corona-Dauerwelle will Gössner nicht mehr schweigen.

Angesichts solcher Zurückhaltung oder auch Konfliktscheu fühlte ich mich regelrecht gedrängt, mit meinen skeptischen Gedanken und zuspitzenden Thesen zum alptraumhaften Coronaausnahmezustand und zur "neuen Normalität" dazu beizutragen, in dieser bedrückenden Zeit großer Unsicherheit bürgerrechtliche Orientierung zu bieten für eine offene, für eine kritische und kontroverse Debatte.

Denn auch die gesellschaftliche Debatte hat - nicht zuletzt in den Medien - allzu lange unter Angst, Einseitigkeit und Konformitätsdruck gelitten, auch unter Diffamierung und Ausgrenzung. Diskussionskultur und Meinungsvielfalt haben in der Coronakrise jedenfalls gehörig gelitten, und sie leiden noch immer - auch wenn Zweifel, Kritik und Gegenstimmen längst lauter geworden sind, sich aber mitunter auch skurril bis gefährlich verirren.

Rolf Gössner

Hier grenzt sich der Jurist klar von irrationalen Strömungen ab, die bei den Hygienedemonstrationen mitmischten. Schließlich analysiert Gössner die Folgen der Coronapolitik auf alle Lebensbereiche.

Das Coronavirus gefährdet ja nicht allein Gesundheit und gar Leben von Menschen, sondern schädigt auch elementare Grund- und Freiheitsrechte, Rechtsstaat und Demokratie - "dank" jener gravierenden Coronaabwehrmaßnahmen, die dem erklärten und wichtigen Ziel dienen sollen, das Gesundheitssystem vor dem Kollaps zu bewahren sowie Gesundheit und Leben zu schützen.

Abwehrmaßnahmen, die jedoch gleichzeitig - wie noch nie seit Bestehen der Bundesrepublik - tief in das alltägliche Leben aller Menschen eingreifen, die dabei schwerwiegende individuelle, familiäre, schulische, berufliche, gesellschaftliche, kulturelle und wirtschaftliche Schäden und dramatische Langzeitfolgen verursachen, deren Ausmaß der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland noch lange schwer zu schaffen machen wird. Es war der Historiker René Schlott, der davor warnte, auf diese Weise die "offene Gesellschaft" zu erwürgen, um sie zu retten.

Rolf Gössner

Nun gäbe es da manches an der Rede zu kritisieren, die Anleihe bei Karls Poppers "Offener Gesellschaft" beispielsweise. Aber insgesamt stellt er kritische Fragen über Vergangenheit und Zukunft der Corona-Maßnahmen in Deutschland.

Menschenleben nicht gegen Menschenrechte stellen

In einer beeindruckenden Passage geht Gössner auf die sozialen Verwerfungen ein, die lange vor der Corona-Krise begannen, aber sich in Zeiten der Pandemie verschärften.

Auch soziale Verwerfungen und gesundheitliche Folgen, die durch die Restriktionen unseres täglichen Lebens verursacht werden, müssen in eine verfassungsrechtlich gebotene Abwägung zwischen Freiheitsrechten, Gesundheit und Leben einbezogen werden. Denn das Grundgesetz kennt kein "Supergrundrecht Gesundheit", das alle anderen Grundrechte in den Schatten stellt, genauso wenig wie ein "Supergrundrecht Sicherheit".

Auch die (Über-)Lebenschancen (in) einer Gesellschaft, insbesondere auch für sozial benachteiligte Menschen und Gruppen sind bei Rechtsgüterabwägungen angemessen zu berücksichtigen. Gesundheitsschutz und Freiheitsrechte dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden, Menschenleben nicht gegen Menschenrechte.

Rolf Gössner

Abstand heißt Einsamkeit

Mehrere Beschäftigte in Pflegeheimen haben mittlerweile eine Petition gestartet, die eine Verordnung im Freistaat Bayern aufheben lassen will, die die Abstandspflicht von 1.5 Meter im Alltag eines Pflegeheimes festschreibt.

Aktuell lassen wir unsere Bewohner sehenden Auges vereinsamen.
Und das hat Folgen: Es treibt den physischen, psychischen und kognitiven Abbau voran, schwächt die Bewohner und bringt sie in eine schlechtere Ausgangslage im Falle einer Infektion.

Aus der Petition "Isolation bedeutet Einsamkeit"

Es ist zu begrüßen, dass an verschiedenen Stellen gegraben wird, um einen neuen Lockdown zu verhindern. Es gibt allerdings Politiker, die schon heute nach härteren Maßnahmen schreien. Vielleicht gehen auch mal die Kritiker der Corona-Maßnahmen, die nicht nach rechts offen sind, stärker an die Öffentlichkeit und machen so deutlich, es gibt auch Kritiker aus gutem Grund.