Zahlen, bitte: 224 Nachthexen gegen die deutsche Invasion

Als Nachthexen waren sie Teil der Roten Armee. 224 Frauen bildeten im Zweiten Weltkrieg ein Nachtbomber-Geschwader, das 23.000 Einsätze flog.

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Von
  • Detlef Borchers

Heute vor 100 Jahren wurde Jewgenija Andrejewna Schigulenko geboren. Sie trat 1941 in die Rote Armee ein und flog 968 Kampfeinsätze, zunächst als Navigatorin, dann als Bomberpilotin in der Staffel der "Nachthexen". Bis zum Ende des II. Weltkriegs warf sie 89 Tonnen Bomben auf die deutschen Truppen. Nach dem Krieg blieb sie aktiv in der Armee und war die zweite Frau, die 1955 an der militärpolitischen Lenin-Akademie ihren Abschluss machte. 1976 schloss sie ihr Regie-Studium am Gerassimow-Institut für Kinematographie ab und drehte unter anderem 1981 einen Film, der die Geschichte der Nachthexen zum Thema hatte.

Als 1941 das nationalsozialistische Deutschland die Sowjetunion überfiel, meldeten sich rund eine Million Frauen zum Dienst als kämpfende Soldaten der Roten Armee. Eine von ihnen war Jewgenija A. Schigulenko, die seit 1939 am flugtechnischen Institut der Universität Moskau studierte und eine Pilotenlizenz des Moskauer Flugclubs besaß. Schigulenko kam zum 588. Nachtbomber-Geschwader, eine von drei Kampfflugeinheiten, die ausschließlich mit Frauen besetzt waren. Das Geschwader bestand aus 61 Pilotinnen, 64 Navigatorinnen und dem Bodenpersonal mit 99 Mechanikerinnen, Waffentechnikerinnen und Ingenieurinnen – also 224 Frauen. Es stand unter dem Kommando von Jewdokija Bershanskaja, die mit ihren 30 Jahren die älteste Fliegerin war und vor dem Krieg als Pilotin in der zivilen Luftfahrt gearbeitet hatte.

Die Flugzeuge der Pilotinnen waren Doppeldecker des Typs Polikarpow Po-2, ursprünglich als Schulungsflugzeug und als Version für die landwirtschaftliche Nutzung zum Versprühen von Insektiziden entwickelt. Mit einer maximalen Geschwindigkeit von 120 km/h waren sie den Jagdfliegern der deutschen Luftwaffe hoffnungslos unterlegen, aber dafür sehr gute Segelflieger, die nachts eingesetzt werden konnten.

Einige Kilometer vor dem Ziel wurden bei den in Zweiergruppen fliegenden Bombern die Motoren ausgestellt und man segelte bis zum Bombenabwurf in 500 Metern Höhe mit ca. 80 km/h weiter, ehe danach mit Vollgas das Weite gesucht wurde. Pro Nacht wurden so sechs bis acht, in langen Winternächten gar bis zu 15 Einsätze geflogen, denn die Flugzeuge waren nur 20 Kilometer hinter der Front stationiert und konnten von fast jedem Acker starten. Nachthexen wurden die Fliegerinnen von den Deutschen genannt, die sich die Menge der Einsätze nur dadurch erklären konnten, dass die jungen Frauen unter Drogen standen. Sie übernahmen den Namen.

Insgesamt wurden vom 588. Geschwader über 23.000 Einsätze geflogen, darunter auch extrem gefährliche Tagesflüge zur Erkundung von Stellungen des Gegners. Ein Viertel der Kämpferinnen kamen bis zum Ende des Krieges ums Leben. Mit ihm wurden alle weiblichen Kampfeinheiten aufgelöst. Von all den Pilotinnen schaffte es nur eine – Zinaida Fedorowna Salomantina – in die zivile Luftfahrt, wo sie weitere 10.000 Flugstunden auf Frachtfliegern absolvierte. Die Geschichte der Nachthexen, die zu Kriegszeiten von der Propaganda reichlich ausgeschlachtet wurde, die aber nur wenige Militärhistoriker interessierte, geriet in Vergessenheit in einem Land, in dem Frauen bis heute das Fahren schwerer LKW untersagt ist.

Das bringt uns zur mehrfach mit Orden ausgezeichneten Jewgenija Schigulenko zurück. Sie entschied sich nach ihrer Militärkarriere für ein Filmstudium, um 1982 die verdrängte Geschichte der Nachthexen verfilmen zu können. Weitere Filme zur Rolle der Frauen im Krieg folgten. Die Erinnerung hat sich freilich gewendet, nachdem unter dem russischen Präsidenten Vladimir Putin wieder der "Große Vaterländische Krieg" verherrlicht wird. So gibt es Spielfilme und Fernsehserien um die Fliegerinnen, auch eine etwas schräge deutsche Dokumentation über Stalins Elite-Kämpferinnen, in der die Geschichte der Pilotinnen mit denen zusammengeschnitten wird, die als Partisaninnen im Verborgenen kämpften.

(emw)