Menschenrechte, Demokratie und Diskussionskultur im Ausnahmezustand

Die Debatte über die Pandemie-Politik litt und leidet leider noch immer und immer wieder unter Angst, Einseitigkeit und Konformitätsdruck, auch unter Diffamierung und Ausgrenzung

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Telepolis dokumentiert im Folgenden Auszüge aus der Broschüre Menschenrechte und Demokratie im Ausnahmezustand. Gedanken und Thesen zum Corona-Lockdown, zu "neuer Normalität" und den Folgen. Der Essay erschien Anfang Oktober 2020, noch vor dem zweiten Lockdown. Zentrale Thesen des Aufsatzes behalten dessen ungeachtet Gültigkeit.

Sich an bestimmte Regeln zu halten, um seine Mitmenschen und sich selbst so gut wie möglich zu schützen, ist angesichts der Corona-Epidemie und ihrer Gefahren absolut sinnvoll - wenn damit die Ausbreitung des Virus verlangsamt, das Gesundheitswesen vor Überlastung bewahrt und das Leben besonders gefährdeter Personen geschützt werden kann. Insoweit scheinen Bundesregierung, Landesregierungen und eine recht disziplinierte Bevölkerung, gemessen an Verlauf, Ausmaß und Folgen der Epidemie, prima facie vieles richtig gemacht zu haben - jedenfalls ist die Bundesrepublik Deutschland im internationalen, auch europäischen Vergleich relativ glimpflich davon gekommen.1

Wie viel Glück dabei eine Rolle spielte und welchen Anteil welche staatlichen Maßnahmen daran hatten, lässt sich bislang jedoch nicht mit Sicherheit sagen und wird womöglich auch künftig unerfindlich bleiben.2

Trotz dieser Unwägbarkeit sollten wir die alptraumhafte Situation im Gefolge des neuartigen Corona-Virus und der rigorosen Abwehrmaßnahmen kritisch hinterfragen sowie auf Verhältnis- und Verfassungsmäßigkeit überprüfen - gerade in Zeiten dirigistischer staatlicher Maßnahmen, gerade in Zeiten allgemeiner Unsicherheit, Angst und Anpassung, wie sie immer noch zu verzeichnen sind. Zumal die einschneidenden, unser aller Leben stark durchdringenden Corona-Abwehrmaßnahmen im Lockdown-Modus (März/April 2020) und auch manche spätere Maßregel unstreitig auf Basis einer ungesicherten wissenschaftlichen Datenlage und widersprüchlicher Begründungen verhängt worden sind.3

Debatte unter Angst, Einseitigkeit und Konformitätsdruck

Die folgenden skeptischen Gedanken und zuspitzenden Thesen sollten im Kern schon frühzeitig - es war Mitte April 2020 - dazu beitragen, die komplexe und unübersichtliche Problematik einigermaßen in den Griff zu bekommen und in einer Zeit großer Unsicherheit bürgerrechtliche Orientierung zu bieten für eine offene und kontroverse Debatte.4

Eine solche Debatte, wie sie mittlerweile durchaus in allen möglichen Facetten stattfindet, litt und leidet leider noch immer und immer wieder unter Angst, Einseitigkeit und Konformitätsdruck, auch unter Diffamierung und Ausgrenzung: "Wer dieser Tage von Freiheitsrechten spricht", so Charlotte Wiedemann bereits Ende März 2020 in der "taz", "wird leicht der Verantwortungslosigkeit bezichtigt (…). Und überhaupt: Kritik ist nicht an der Zeit! (…) Auch die Medien stehen unter Konformitätsdruck."5 Und ein Ende ist immer noch nicht abzusehen - auch wenn Skepsis und Gegenstimmen längst lauter geworden sind und sich mitunter skurril bis gefährlich verirren.

Bei so viel immunschwächender, auch leicht manipulierbarer Angst und selten erlebter Eintracht waren und sind weiterhin Skepsis und kritisch-konstruktives Hinterfragen vermeintlicher Gewissheiten und autoritärer Verordnungen nicht nur angezeigt, sondern dringend geboten. Schließlich kennzeichnet das eine lebendige Demokratie - nicht nur in Schönwetterzeiten, sondern gerade in solchen Zeiten wie diesen, gerade in Zeiten großer Gefahren, die nicht nur aus einer, sondern aus unterschiedlichen Richtungen lauern, gerade in Zeiten, die nicht nur die Gegenwart, sondern in besonderem Maße auch die Zukunft schwer belasten.

Ein Virus für die Demokratie

Das Corona-Virus gefährdet nicht allein Gesundheit und Leben von Menschen, sondern schädigt auch verbriefte Grund- und Freiheitsrechte, Rechtsstaat und Demokratie - "dank" der rigiden Abwehrmaßnahmen, die tief in das alltägliche Leben aller Menschen eingreifen: Abwehrmaßnahmen, die schwerwiegende individuelle, familiäre, schulische, berufliche, gesellschaftliche, kulturelle und wirtschaftliche Schäden und dramatische Langzeitfolgen verursachen, wie sie längst schon sichtbar geworden sind und deren Ausmaß der Bundesrepublik Deutschland, ihrer Gesellschaft und ihren Bewohner*innen noch lange schwer zu schaffen machen wird.

Wir erlebten mit dem partiellen, aber dennoch recht pauschalen und weitreichenden "Lockdown" ab 23. März 2020 einen gesundheitspolitischen Ausnahmezustand auf (seinerzeit) unbestimmte Dauer.6

Wie noch nie seit Bestehen der Bundesrepublik wurden durch zwangsbewehrte Kontakt-, Besuchs- und Versammlungsverbote, durch Schließungen von Ländergrenzen, Kitas und Spielplätzen, Schulen, Universitäten, Theatern, Museen, Kinos, Kirchen, Moscheen und Synagogen sowie von Kneipen, Clubs, Restaurants, Hotels und Geschäften, durch Arbeits-, Veranstaltungs- und Reiseverbote flächendeckend und bundesweit elementare Grund- und Freiheitsrechte massiv eingeschränkt und ausgesetzt.

Allgemeines Persönlichkeitsrecht, Recht auf Freizügigkeit, auf Handlungsfreiheit, auf Bildung, auf Versammlungs-, Meinungs-, Kunst- und Religionsfreiheit sowie Schutz von Ehe, Familie und Kindern, die Freiheit der Berufsausübung, die Gewerbe- und Reisefreiheit. Das gesamte private, soziale, kulturelle, religiöse und in weiten Teilen auch wirtschaftliche Leben eines ganzen Landes mit 83 Millionen Einwohnern war betroffen und kam weitgehend zum Erliegen - mit dem erklärten Ziel, das Gesundheitssystem vor dem Kollaps zu bewahren sowie Gesundheit und Leben zu schützen.7

Unter den Bedingungen des Lockdowns ab März 2020 waren organisierte kollektive Meinungsäußerungen im öffentlichen Raum weitgehend tabu - ob in Form von Protesten, Demonstrationen oder Streiks.8 So etwa Demos gegen den Ausnahmezustand, gegen existenzbedrohende Folgen einer bevorstehenden Wirtschaftskrise, gegen Klimakrise und Rassismus oder aber gegen die kollektive Verdrängung der grauenvollen Zustände in griechischen Flüchtlingslagern.

So wurde anfänglich politisch-kollektive Meinungsäußerung und soziale Teilhabe mit Bezug auf das Infektionsschutzgesetz weitgehend ausgebremst, so wurden Versammlungs- und Meinungsfreiheit per Allgemeinverfügung und Polizeigewalt pauschal ausgehebelt und damit in ihrem Wesensgehalt verletzt - zeitweise selbst dann, wenn Anmelder und Akteure Sicherheits- und Abstandsregeln beachteten.

Ein verfassungsrechtliches Desaster mit polizeistaatlichen Anklängen, dem die Verwaltungsgerichte zunächst mit auffälliger Zurückhaltung bei der rechtlichen Überprüfung begegneten. Dem hat das Bundesverfassungsgericht Mitte April 2020 dann endlich ein Ende bereitet.9 Generelle Versammlungsverbote ohne Prüfung des Einzelfalls, wie es aufgrund von Verordnungen möglich geworden war, sind verfassungswidrig und damit unzulässig, so das Gericht - eigentlich eine Selbstverständlichkeit angesichts der zentralen Bedeutung der Versammlungs- und Meinungsfreiheit in einer repräsentativen Demokratie und einer offenen Gesellschaft.

Denn das Recht, sich frei zu versammeln und aktiv am politischen Meinungsbildungsprozess teilzunehmen, zählt zu den unentbehrlichen Funktionselementen eines demokratischen Gemeinwesens, wie das Bundesverfassungsgericht schon 1985 in seiner wegweisenden Brokdorf-Entscheidung festgestellt hatte.10

Die Demonstrationsfreiheit ist das "Grundrecht der Unzufriedenen und der Unbequemen", so Heribert Prantl (Süddeutsche Zeitung).11 "Sie ist auch das Grundrecht der Aufsässigen" und, so wäre zu ergänzen, aller sozialen, ethnischen, diskriminierten, politischen und sonstigen Minderheiten.

Das gilt prinzipiell auch in Krisenzeiten: Deshalb müssen auch in Zeiten von Corona Versammlungen zugelassen werden, wie das seit den Beschlüssen des Bundesverfassungsgerichts auch wieder geschieht - notfalls eben unter geeigneten und verhältnismäßigen Auflagen, etwa zum Schutz der Gesundheit. Auch die Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte ist nach diesen Entscheidungen wieder versammlungsfreundlicher und differenzierter geworden.