Warum es immer ein Fehler ist, gegen das Silicon Valley zu wetten

Tech-Firmen, die Kalifornien verlassen, vergessen, was das Silicon Valley zu einem Zentrum der Innovation macht, meint die IT-Journalistenlegende John Markoff.

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Alles so schön bunt hier: Auf dem Google-Campus in Silicon Valley.

(Bild: Guido Coppa / Unsplash)

Lesezeit: 12 Min.
Von
  • John Markoff
Inhaltsverzeichnis

Es ist ein halbes Jahrhundert her, dass diese ironisch gemeinte Werbetafel in den Siebzigerjahren, als der Flugzeughersteller Boeing von einer schweren Krise heimgesucht wurde, Reisende auf ihrem Weg zum Flughafen Sea-Tac begrüßte: "Würde die letzte Person, die Seattle verlässt, bitte das Licht ausmachen?"

Aber Seattle ging schließlich nicht den Weg des Niedergangs wie etwa Detroit. Noch vor Ende des Jahrzehnts benannten zwei Söhne der Stadt, Bill Gates und Paul Allen, ihre Softwarefirma von Micro-Soft in Microsoft um, zogen von New Mexico zurück in ihre Heimat und ließen sich in einem Vorort auf der anderen Seite des Lake Washington nieder.

Wie wäre es der Stadt wohl ergangen, wenn Gates und Allen stattdessen beschlossen hätten, Microsoft in Albuquerque aufzubauen? Wir werden es nie erfahren. Aber Seattles Aufschwung war mehr vom Glück abhängig, als die Menschen normalerweise zugeben wollen.

Wir denken uns gerne Gründe aus, um zu erklären, warum bedeutende Veränderungen geschehen oder wie es zu enormen Verschiebungen kommt: Wir hören großartige Behauptungen über innovative Kultur oder geografische Vorteile. Die Realität ist jedoch, dass der Zufall eine große Rolle bei der Umgestaltung der wirtschaftlichen Geschicke der Region Seattle gespielt hat – und auch in anderen Regionen in der Vergangenheit gespielt hat und immer noch spielt.

Die Geschichte von Orten wird ebenso sehr von zufälligen persönlichen Entscheidungen, z. B. wie erwähnt über den Wohnort, oder von "schwarzen Schwänen" wie dem Finanzcrash 2008 bestimmt wie vom Schicksal. Und obwohl dies vielleicht weniger befriedigende Möglichkeiten bietet, die Zukunft vorherzusagen – sie ist sicherlich mehr ein Flickenteppich von Gründen, als professionelle Futuristen glauben machen wollen – sind sie nicht nur für Seattle, sondern auch für das Silicon Valley zutreffend, die zentrale Region der Innovation in den Vereinigten Staaten. Es gab schon immer eine Menge Debatten darüber, was die Einzigartigkeit des Silicon Valley ausmacht – das zufälligerweise von dem Technologiejournalisten Don Hoefler 1971 so benannt wurde, im selben Jahr, als das "Turn off the lights"-Plakat in Seattle erschien.

Was auch immer die Gründe dafür sind, dass das Valley seither das weltweit dominierende Zentrum für technologische Innovationen geblieben ist, seine Wurzeln liegen eindeutig in einer Reihe von glücklichen Zufällen. Zunächst beschloss William Shockley, die Bell Labs zu verlassen und seine neue Halbleiterfirma in Palo Alto zu gründen, weil er in der Nähe seiner alternden Mutter leben wollte. Dann, ein paar Jahre später, führte eine Kartellrechtsklage des Justizministeriums gegen AT&T zu einer erzwungenen kostenlosen Lizenzierung der Technologie für integrierte Schaltkreise des Unternehmens. Dies löste die Explosion der Transistortechnik und der Computer aus – eine Welle von Disruptionen, die bis heute weiterbesteht.

Doch trotz des fast schon religiösen Glaubens an den eigenen Ruf der Innovation hat das Valley nur relativ wenige große, dramatische Konzepte hervorgebracht, die ganz neue Lebens- und Arbeitsweisen generiert haben, wie Doug Engelbarts Hypertext und Maus, Alan Kays Dynabook (ein Vorläufer des Tablets) oder Marc Weisers "Ubiquitous Computing". Stattdessen hat sich das Silicon Valley auf die Produktentwicklung konzentriert und ist in etwas anderem sehr geschickt geworden: im Aufspüren profitabler neuer Ideen. "Wann immer es eine spannende neue Idee gibt, wimmelt es im Valley plötzlich von ihr", sagte mir Jensen Huang, der Chef des Chipherstellers Nvidia. "Die Leute müssen auf eine gute Idee warten – und gute Ideen gibt es nicht jeden Tag."

Dieser Fokus wurde durch die Stärke der Venture-Capital-Branche im Valley und ihre Effizienz bei der Finanzierung neuer Startups noch verstärkt. Im Jahr 2019 übertraf die Bay Area mit mehr als 50 Milliarden Dollar an Risikokapitalfinanzierungen bei weitem die Summe in jeder anderen Region der Vereinigten Staaten. All das liegt einem Wandel zugrunde, der dazu geführt hat, dass sich die Region weg von der Fertigung hin zu Hardware-Engineering und Software-Design bewegt hat. (Nvidia selbst wurde gegründet, um Grafikprozessoren für Videospiele zu entwickeln, und wandte sich dann später in Richtung von Machine-Learning-Anwendungen.)

Aber gute Ideen sind nicht nur selten – sie sind auch notorisch schwer vorherzusagen. Das Web, die Suchmaschinen und das maschinelle Lernen haben die Gurus im Silicon Valley allesamt letztlich überrascht. Das lag zu einem großen Teil daran, dass jahrzehntelang die rasant steigende Leistung und die sinkenden Kosten von Computern neue, unerwartete Dinge möglich machten. Mit jeder neuen Generation von Silizium kamen Innovationen wie am Schnürchen: Desktop-PCs, Laptops, digitales Audio und Video, Smartphones und das Internet der Dinge.

Überraschungen sind jetzt, da das Mooresche Gesetz, der wichtigste Glaubensartikel des Valley, seit 2013 ins Stottern geraten ist, vielleicht nicht mehr so häufig anzutreffen. In der Tat ist es zumindest in einer wichtigen Hinsicht zum Stillstand gekommen. Die Kosten pro Transistor – die einst mit der gleichen exponentiellen Rate fielen, mit der die Transistordichte zunahm – haben sich seit mehr als drei Generationen der Chipherstellung nicht mehr verändert.

"Wir hatten im Grunde einen Freifahrtschein", sagte mir Carver Mead, der Physiker, der eigentlich den Begriff "Moore's Law" geprägt hat, vor einigen Jahren. "Es ist wirklich verrückt, aber das hat sich ausgezahlt." Nun aber ist die freie Fahrt vorbei. Bedeutende technologische Fortschritte werden nur noch als Reaktion auf den menschlichen Einfallsreichtum kommen. Und das bedeutet, dass es für das Silicon Valley an der Zeit ist, bescheidener zu werden.

Die sogenannte Serendipity, den glücklichen Zufall, sollte man besonders im Hinterkopf behalten, wenn hochkarätige Unternehmen aus dem Valley entfleuchen. Erst im vergangenen Dezember kündigten Hewlett Packard Enterprise und Oracle an, ihren Hauptsitz nach Texas zu verlegen, und Tesla deutete an, dass es diesem Beispiel folgen könnte. Diese Schritte haben eine neue Runde des Händereibens und der Spekulationen darüber ausgelöst, ob das Valley sein "Mojo" verloren hat. Aber die Frage wird eben nicht zum ersten Mal gestellt. In der Vergangenheit gab es Zeiten, in denen der Fortschritt ins Stocken zu geraten schien, nur um dann mit einem Durchbruch, der völlig aus dem Nichts zu kommen schien, zurückzuschlagen.

Bis 2006 hatte man das Gefühl, dass die Innovation im Valley abebbt und die Fortschritte bei mobiler Hardware zuerst in Europa bei Unternehmen wie Nokia und Psion stattfinden. Doch im darauffolgenden Jahr stellte Steve Jobs das iPhone vor, das die beiden größten Misserfolge aus diesem Bereich, Apples PDA Newton und der Communicator von General Magic, letztlich neu interpretierte. Das Valley wurde fast über Nacht wieder zur weltweit dominierenden Region für Innovationen in der IT.

Nordkalifornien war schon seit dem Goldrausch eine Boom-and-Bust-Wirtschaft. Als Teenager, der in Palo Alto aufwuchs, hörte ich von Massenentlassungen im NASA-Forschungslabor Ames und bei der Lockheed Missiles and Space Company, die dazu führten, dass Wellen von Ingenieuren die Stadt verließen. Daran wurde ich nach dem Dot-Com-Zusammenbruch erinnert, als ich einen Startup-Veteranen auf einer Konferenz sah und feststellte, dass ich ihn schon seit einigen Jahren nicht mehr gesehen hatte. "Wo bist du gewesen?" fragte ich. Er habe den Staat verlassen, um bei seiner Familie zu leben, aber die Dinge hätten sich gebessert und jetzt sei er zurück, antwortete er.

Das bedeutet nicht, dass das Überleben des Valley eine Selbstverständlichkeit ist. Heute gibt es trotz anhaltend starker Investitionen und Risikokapital neue Gründe für Unsicherheit, abgesehen vom abgewürgten Halbleiterzyklus. Einer hat mit der Fähigkeit zu tun, Talente heranzuholen. Das Silicon Valley verdankt seine Existenz in vielerlei Hinsicht der Mystik, die in den 1970er Jahren entstand und eine magnetische Kraft erzeugte, die kontinuierlich die besten und klügsten Köpfe aus der ganzen Welt angezogen hat. In der Tat könnte dies ein Schlüssel zum Verständnis dessen sein, was die Region von anderen Innovationszentren unterscheidet.

Ich stolperte zum ersten Mal darüber, als ich Mitte der 1980er Jahre als technischer Redakteur beim Byte-Magazin arbeitete. Ein lokaler Hardware-Designer nahm mich zu einer indischen Bäckerei in Sunnyvale mit, die voller Frauen in Saris und deren Ehemännern war, die als Ingenieure beschäftigt waren. Sie waren ins Valley gekommen, als wichtige Knowledge Worker für die schnell wachsende Festplattenindustrie. (Zehn Megabyte Festplattenspeicher waren eine große Sache!) Auch Europäer, Asiaten und Lateinamerikaner kamen und brachten intellektuelle Kraft und Unternehmergeist mit. Innerhalb eines Jahrzehnts war es möglich, im Valley von Viertel zu Viertel zu fahren und in jedem eine andere Sprache auf den Ladenschildern und Werbetafeln zu sehen.

Nun aber sind in den USA mächtige einwanderungsfeindliche Kräfte am Werk und es ist durchaus möglich – selbst unter der Biden-Administration –, dass neue Barrieren für ausländische Fachkräfte und Unternehmer eine der wichtigsten Zutaten für den Erfolg des Valleys zerstören. Ein weiterer Grund für die Unsicherheit ist, dass der nächste große Technologiewandel noch nicht da ist, geschweige denn klar. Als sich das Tempo des Moore'schen Gesetzes im letzten Jahrzehnt verlangsamte, vollzog das Valley einen Übergang der beiden jüngsten Innovationsgenerationen – von Social-Media-Plattformen zu Software und Dienstleistungen, die auf maschinellem Lernen basieren. Das Risikokapital schwenkte um und die Finanzierung für soziale Medien, die 2012 ihren Höhepunkt erreicht hatte, fiel bis 2016 fast auf Null, da sich die Investoren in Startups mit maschinellem Lernen stürzten.

Es gibt heute jedoch kaum einen Konsens darüber, was das "nächste große Ding" sein könnte – oder wann es kommt. Die Futuristen verweisen auf Augmented Reality – einige Optimisten glauben, dass damit die gesamte asiatische Flachbildschirmindustrie in Gefahr ist, wenn wir alle AR-Brillen tragen – als wahrscheinlichen Kandidaten für die Plattform, die den nächsten Investitionszyklus auslösen wird. Aber das kann noch einige Jahre dauern.

Oder vielleicht verschmelzen Software und Biologie endlich miteinander: Die synthetische Biologie hat durch den Erfolg der jüngsten mRNA-Coronaviren-Impfstoffe einen deutlichen Schub erhalten. Oder vielleicht wird Quantencomputing zur kommerziellen Realität und senkt die Kosten für Rechenzentren wie die von Google drastisch. Oder überlegen Sie, was es bedeuten würde, wenn sich ein Apple-Auto als ebenso erfolgreich erweisen würde wie das iPhone. (Aber darauf würde ich mich nicht verlassen.)

Es ist jedoch genauso wahrscheinlich, dass es eine lange Durststrecke geben wird und das Valley sich in einer ähnlichen Situation wiederfindet wie Seattle, als es sich zu sehr auf Boeing verließ. Noch besorgniserregender ist, dass sich China als jener erbitterte Konkurrent erweisen könnte, den das Silicon Valley einst in Japan befürchtete. Es ist durchaus möglich, dass die wirkliche Bedrohung für die nächste große Technologieplattform zuerst aus Shanghai oder Shenzhen oder Peking kommen wird. Wer einmal den Stadtteil Zhongguancun in der chinesischen Hauptstadt besucht hat, kommt nicht umhin, die Ähnlichkeit zum Valley in der Konzentration von Talent und Kapital zu erkennen.

Trotzdem scheint es unklug, gegen den glücklichen Zufall und damit auch gegen das Silicon Valley zu wetten. Vorhersagen über seinen bevorstehenden Untergang waren regelmäßig und kurzsichtig. Ich habe diese Lektion persönlich gelernt, nachdem ich an dem Buch "The High Cost of High Tech" ("Die hohen Kosten der Hochtechnologie") aus dem Jahr 1985 mitgeschrieben habe, in dem ich argumentierte, dass die Umwelt- und Arbeitskosten des Wachstums die Expansion des Silicon Valley bald begrenzen würden. Mein Co-Autor war damals Lenny Siegel, der später Bürgermeister von Mountain View wurde, der Stadt, in der Google heute seinen Hauptsitz hat. Ups.

(bsc)