Lernkarten-Apps von US-Soldaten verraten Atomwaffen-Geheimnisse

US-Militärs nutzten öffentlich einsehbare Lern-Apps, um sich Sicherheitsprotokolle für Nuklearwaffen-Depots in Europa einzuprägen. Experten sind entsetzt.

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(Bild: Pavel Ignatov/Shutterstock.com)

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Für US-Soldaten, die mit der Aufsicht über Atomwaffen in Europa beauftragt sind, steht viel auf dem Spiel. Die Sicherheitsprotokolle für das Lagern von Kernwaffen sind lang, detailliert und müssen auswendig gelernt werden. Kein Wunder also, dass einige Militärangehörige auf Apps für Lernkarten setzten, um sich die Vorschriften besser einprägen zu können. Das Problem dabei: Die Inhalte der virtuellen Karteikärtchen waren öffentlich einsehbar. Die Lernenden verrieten so zahlreiche sensible Details über die an sich streng geheimen Regeln und die Stützpunkte, in denen das US-Arsenal gelagert wird.

Dem brisanten Datenleck auf die Spur kamen Forscher des britischen Rechercheportals Bellingcat. Sie beschreiben in einem Artikel Einzelheiten ihres Funds. Dass US-Nuklearwaffen in Europa und benachbarten NATO-Ländern vorhanden sind, ist demnach zwar seit Langem durch verschiedene durchgesickerte und befreite Dokumente, Fotos und Aussagen pensionierter Beamter bekannt. Ihre genauen Standorte und dort geltende Sicherheitsvorgaben waren bisher aber ein mehr oder weniger gut gehütetes Geheimnis.

Die entdeckten, bis 2013 zurückreichenden Lernkarten für kostenlose Plattformen wie Chegg, Quizlet und Cram identifizieren nun dem Bericht zufolge aber nicht nur die einschlägigen Stützpunkte, sondern auch die genauen Bunker und Gewölbe, in denen wahrscheinlich Atomwaffen lagern. Sie sollen zudem Positionen von Überwachungskameras, die Häufigkeit der Patrouillen rund um die Tresore und geheime Parolen offenbaren, die signalisieren, dass eine Wache bedroht wird. Enthüllt worden seien selbst eindeutige Kennzeichen, die ein Ausweis für Sperrgebiete haben muss.

Wie etwa analoge Vokabelkarten sind die illustrativen Online-Tafeln für die Lern-Apps beliebte Hilfen, die auf einer Seite Fragen und auf der anderen Antworten zeigen. Durch eine einfache Online-Suche nach Begriffen, die bekanntermaßen mit Atomwaffen in Verbindung gebracht werden, konnte Bellingcat nach eigenen Angaben Karten ausfindig machen, die von Militärangehörigen verwendet worden seien. Diese dienten auf allen sechs europäischen Militärbasen, die Berichten zufolge Raketen mit nuklearen Sprengköpfen aufbewahren.

Auf Basen mit Atomwaffen sind Schutzräume für Flugzeuge (PAS) regelmäßig mit Waffenlager- und Sicherheitssystemen (WS3) ausgestattet, die aus elektronischen Steuerungen, Sensoren und einem Tresor bestehen, der in den Boden eingebaut ist. In diesen Katakomben können etwa je bis zu vier frei fallende thermonukleare Wasserstoffbomben vom Typ B61 gelagert werden. Entsprechende Informationen finden sich in Online-Artikeln, Ausschreibungsunterlagen der US-Regierung und sogar in Wikipedia-Einträgen.

Eine einfache Online-Suche nach "PAS", "WS3" und "Tresor" zusammen mit den Namen von Luftwaffenstützpunkten in Europa führte die investigativen Journalisten so schnell zu einschlägigen Lernplattformen. Als Beispiel nennen die Autoren den Militärflugplatz Volkel in den Niederlanden: Ein Satz von 70 Karteikarten mit dem Titel "Study!" auf Chegg habe die genauen Atomwaffenbunker vermerkt. Ein zweites Set von über 80 Lernhilfen habe noch deutlich sensiblere Details rund um den italienischen Luftwaffenstützpunkt Aviano enthüllt.

Ein Soldat habe über 100 Einzelheiten zu spezifischen Funktion notiert, heißt es. Dazu gehörten der Standort der Modems, die die Tresore mit der Überwachungseinrichtung verbinden, Verfahren für Notsignale für jeden Bereich auf der Basis, die Sichtbilder der Kameras, die auf den Tresor gerichtet sind, sowie Komponenten und Funktionsweise ihrer Konsole. Details rund um die Zusammensetzung von Passwörtern und Benutzernamen seien ebenfalls auf den Karten aufgeführt gewesen.

Einige der Tafeln sollen für gewisse Stützpunkte Angaben enthalten haben, in welchen Gebäuden die Schlüssel zu den Flugzeugbunkern aufbewahrt werden. Teils sei daraus hervorgegangen, welche Gegenstände in den Sicherheitseinrichtungen gegen Manipulationen geschützt sind, wo sich die Notstromaggregate befinden und wo die A- und B-Versionen der universellen Freigabecodes liegen, die alle Tresore auf einmal öffnen. Einige gesichtete Frage-Antwort-Zettel erklärten, was man notfalls am besten einem Eindringling in der Landessprache zurufe.

Wie es zu den Lecks kommen konnte, ist dem Bericht nach nicht ganz klar. Auf der Webseite von Quizlet etwa finde sich ein Hinweis, dass alle Karteikarten standardmäßig auf öffentliche Sichtbarkeit eingestellt sind. Nutzer könnten dann die Privatsphäre-Einstellungen ändern. Offensichtlich hielten dies viele Militärs nicht für nötig.

Experten monierten gegenüber dem Portal, dass die Funde schwerwiegende Verstöße gegen gängige Sicherheitspraktiken darstellten und erneut Fragen über die Stationierung von US-Atomwaffen in Europa aufwürfen. Der Waffenkontrollforscher Jeffrey Lewis erläuterte auch, dass die Geheimhaltung weniger darauf ausgerichtet sei, das Arsenal vor Terroristen zu schützen. Vielmehr gehe es darum, Politiker und militärische Führer vor Auseinandersetzungen über die Frage zu bewahren, ob die Vereinbarungen über die gemeinsame Nutzung von Atomwaffen durch die NATO noch sinnvoll seien.

Die erwähnten Lernkarten sind laut dem Artikel von den App-Betreibern mittlerweile heruntergenommen worden, "nachdem Bellingcat die NATO und das US-Militär vor der Veröffentlichung um eine Stellungnahme gebeten hatte". Einige Plattformen zeigten aber auch an, wann Nutzer ihre Sets zuletzt verwendet haben. Dies sei in einem Fall zuletzt im April gewesen, obwohl das Material zu diesem Zeitpunkt schon entfernt gewesen sein sollte.

Ein Sprecher der US Air Force bestätigte, dass Mitglieder der Streitkräfte bekanntermaßen einschlägige Apps nutzten, um "eine Vielzahl von Themen" zu lernen. Es gebe jedoch keine Empfehlung, dies zu tun. Zu vergangenen oder aktuellen Sicherheitsvorfällen äußere man sich nicht. Die Verteidigungsministerien von Belgien, Deutschland, Italien, den Niederlanden und der Türkei, wo US-Kernwaffen gelagert sein sollen, reagierten auf Bellingcat-Anfragen zunächst nicht.

(tiw)