Preis für Datenkraken: Big Brother Awards in pandemischen Zeiten

In diesen Minuten beginnt in Bielefeld die feierliche Preisverleihung der Big Brother Awards 2021. Eine Vorab-Zusammenfassung.

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(Bild: Heiko Sakurai)

Lesezeit: 10 Min.
Von
  • Detlef Borchers
Inhaltsverzeichnis

Auch in einem von Corona geprägten Jahr haben sich einige Firmen und Behörden angestrengt, Überwachungstechnologien auszubauen oder den Datenschutz abzuwürgen. Dafür überreicht ihnen die Jury der Big Brother Awards in einer kleinen Gala in Bielefeld die begehrten Preise. Nach einem Jahr ganz ohne Publikum dürfen 2021 wieder 50 Zuschauer dabei sein, der Rest schaut in die Röhren, aus denen das Internet bekanntlich besteht. Diesmal soll die Gala interaktiv sein, weil man das Fediverse und Twitter mit dem Hashtag #BBA21 einbeziehen will.

Wer die von Digitalcourage organisierte Gala-Veranstaltung im Livestream nicht verfolgen kann, mag diese Zusammenfassung mit vielen Links zur Fortbildung des geneigten Online-Publikums lesen. Alle Preisträger werden gewürdigt, wie dies auch in Bielefeld die Juroren tun, mit einer prominenten Ausnahme: Seit der ersten Preisverleihung der Big Brother Awards im Jahre 2000 war der Rechtsanwalt Rolf Gössner Mitglied der Jury. Zum improvisierten Start im Keller am Ulmenwall verlieh er damals dem Berliner Innensenator Eckart Werthebach einen BBA für die Telefonüberwachung mittels IMSI-Catcher. Kaum zu glauben, dass diese Standortabfrage, heutzutage Routinearbeit in nahezu jedem TV-Polizeikrimi, damals illegal war. Sie blieb es auch nicht lange und wurde bereits 2003 legalisiert, so wie passend zur technischen Entwicklung gerade der Einsatz des Staatstrojaners bei der Bundespolizei und den Geheimdiensten abgesegnet wurde. Rolf Gössner ist jedenfalls aus der Jury ausgeschieden und wird in Bielefeld eine Abschiedsrede halten, in der die staatliche Überwachung ganz sicher eine Rolle spielen wird. Denn Rolf Gössner wurde 38 Jahre lang von verschiedenen Geheimdiensten bespitzelt und überwacht, ein unrühmlicher Rekord der deutschen Dienste.

Damit zu den würdigen Preisträgern. Zu den BBA 2021 wurden fünf ausgewählt, drei davon sind Gewächse aus dem Leben inmitten der Corona-Pandemie: In der sogenannten Überwachungsgesamtrechnung, die von der noch amtierenden Regierung abgelehnt wird, haben die Jahre 2020/2021 tiefe Spuren hinterlassen. Vor allem im Gesundheitswesen und das ganz ohne das Walten und Herumschalten von Gesundheitsminister Jens Spahn. Denn die französische Firma Doctolib bekommt für ihren Terminvereinbarungs-Service für Arztpraxen einen Big Brother Award in der Kategorie "Gesundheit".

Doctolib wurde bereits auf dem rc3 des Chaos Computer Clubs kritisiert, weil es Hackern gelang, an die Metadaten zu gelangen, die bei der Reservierung eines Termins entstehen können. Auch die Verwaltung von Videosprechstunden durch Doctolib stand in der Kritik. Die Juroren der Big Brother Awards sahen jedoch ein ganz anderes Problem: Wenn eine Praxis den Terminvereinbarungs-Service nutzen will, muss sie die Stammdaten der Versicherten an Doctolib übergeben. Das Verfahren wird von Dokumenten abgesichert, die das Juristenherz erfreuen. Es gibt ein Dutzend solcher Dokumente: allgemeine Nutzungsbedingungen, Datenschutzhinweise, Grundsätze zum Schutz von Gesundheitsdaten. Dazu kommt eine Cookie-Richtlinie, eine Verarbeitungsliste, weitere Hinweise zu Datenschutz und Sicherheit und schließlich ein Auftragsverarbeitungsvertrag sowie Begriffsbestimmungen. "Das ist für einen einheitlichen Dienst zu viel. Die Dokumente sind verwirrend und unklar, teilweise widersprüchlich", erklärt Thilo Weichert, der ehemalige Datenschutzbeauftragte von Schleswig-Holstein. Das von ihm mitgegründete Netzwerk Datenschutzexpertise will ein Gutachten über Doctolib veröffentlichen, doch auch so reicht es für die Auszeichnung als "Datenkrake".

Was im Lockdown weiter laufen sollte, waren Prüfungen und Examina im höheren Bildungswesen. Für sie bietet die Münchener Firma Proctorio eine "vollautomatische und sichere Prüfungsaufsicht für Online-Prüfungen" an. Nach Ansicht der Jury sind schon die Datenschutzinformationen problematisch, doch der große Aufsichtsbruder geht viel weiter. "An einer Onlineprüfung teilnehmen kann nur, wer Proctorio den Zugriff auf seine Videokamera ermöglicht. Diese muss während der gesamten Prüfungszeit eingeschaltet sein. Prüfende können entscheiden, ob sie Studierende während der Prüfung persönlich beobachten, oder ob die Software dies für sie erledigt." Zusätzlich wird mit einem Raum-Scan die Umgebung abgesucht, ob Souffleusen oder Souffleure zu sehen sind.

Damit nicht genug, denn die Software analysiert die Augenbewegungen, was als "Gesichtserkennung" beworben wird. Selbstredend ist Copy & Paste gesperrt, ebenso der Datei-Download. Nach einem Bericht der Washington Post über Prüfsoftware klagte der Studentenrat der Universität Amsterdam vor Gericht gegen Proctorio, weil die Software die Privatsphäre verletze. "Er forderte, dass Studierende in das Verfahren einwilligen müssten, bevor die Software ihre Webcams und Mikrofone überwachen darf. Gleichzeitig wollten sie, dass sich ihre Studienzeit nicht verlängert, wenn sie die Prüfungsform ablehnen. Mitte Juli 2020 entschied das Bezirksgericht in Amsterdam, dass die Universität Proctorio weiterhin verwenden darf – ohne eine Zustimmung der Studierenden einholen zu müssen." Von deutschen Universitäten sind keine Proteste bekannt geworden. Immerhin nennt die Webseite der Firma die Johann Wolfgang Gorthe-Universität in Frankfurt/M, die Fachhochschule des Mittelstands und die Universität Bielefeld als Nutzer der Prüfungsaufsicht. Insofern hätte der Big Brother Award nicht nur in der Kategorie "Bildung" an Proctorio vergeben werden können, sondern auch in der einstmals sehr beliebtes Kategorie "Regionales".

Der Preis des Jahres 2021 in der Kategorie "Verkehr" hat eine Vorgeschichte. Sie beginnt mit dem Datenschutz und dem Wunsch der Bundesregierung, die Messung von PKW-Verbrauchsdaten ohne Erfassung der Fahrgestellnummer durchführen zu lassen. Das Umweltministerium äußerte dann den Mindestwunsch nach einer Pseudonymisierung der Daten. Das war mit der EU-Kommission nicht zu machen. Beim Fuel Consumption Monitoring, das ab dem 1. April 2022 bindend wird, wird künftig die Fahrzeug-Identifizierungsnummer (FIN) von PKW und Kleintransportern zusammen mit dem Sprit- oder Stromverbrauch zunächst an die Hersteller und dann an die Europäische Umweltagentur übertragen und dort 20 Jahre (!) lang in einem besonders sicheren zentralen Archiv gespeichert.

Grund genug, der EU Kommission für das Mess- und Aufzeichnungsgerät, dem "On-Board Fuel Consumption Meter" (OBFCM), einen Big Brother Award zu überreichen. Die Sache ist eigentlich simpel: "So lange die Motordaten mit der Fahrzeug-ID verknüpft bleiben, sind auf jeden Fall umfangreiche Einblicke in das individuelle Fahrverhalten möglich", heißt es in der Laudatio. Die Sache ist aber auch lustig: Weil Autohersteller in der Vergangenheit bei der Ermittlung der durchschnittlichen Verbrauchsdaten schummelten, soll die Übertragung der FIN dafür sorgen, dass die Daten unverfälscht sind. Damit nicht genug. In seiner Preisrede erwähnt Laudator Frank Rosengart den Datenraum Mobilität, in dem Autohersteller und Mobilitätsanbieter ihre Daten teilen wollen. Was geteilt wird, sei reichlich unklar. "Mit OBFCM" wird ein weiteres Mosaiksteinchen in Richtung gläserne AutofahrerInnen gelegt, obwohl dies gar nicht notwendig wäre.

Neben den herkömmlichen Kategorien wie "Verkehr" oder "Bildung" haben die Big Brother Awards 2021 zwei neue, persönlich gefärbte Kategorien bekommen. Unter "was mich wirklich wütend macht!" erzählt Rena Tangens über ihre Erlebnisse mit Cookie-Bannern und Trackern, mit geschickt platzierten Einwilligungstrackern, die trickreich mit "Dark Patterns" dafür sorgen, dass man doch alle Cookies akzeptiert. Was sie im Verlauf des Jahres wirklich wütend machte, war die Ankündigung von Google, dass der Browser Chrome in der PC-Version ab 2022 auf Third Party Cookies verzichtet und durch das Konzept des Federated Learning Of Cohorts ersetzt.

Was die Laudatorin dann doch amüsierte, war der Moment, als Google unabsichtlich Details vom Projekt "Bernanke" veröffentlichte, die belegen, wie das Unternehmen sich selbst im Werbemarkt bevorzugt hat. Auch das Projekt Jedi Blue, eine mögliche Kungelei zwischen Facebook und Google, zeuge nicht von der Redlichkeit des Konzerns. Die Konsequenz ist klar: "Google erhält den Big Brother Award 2021 für jüngst offenbar gewordene massive Manipulation des Internet-Werbemarktes, Aushungern von Kreativen und Medien sowie Enteignung unserer digitalen Persönlichkeiten. Vielleicht ist das alles schon mal der Anfang von etwas, was Google wirklich wütend macht", schließt die ausführliche Preisrede auf ein Unternehmen, das einst versprach, "nicht böse zu sein". Es ist das zweite Mal nach 2013, als Google den Preis für das "globale Datensammeln" kassierte.

Mit der Kategorie "Public Intellectual" geht der Preis an eine Person, die sich selbst noch in der ziemlich veralteten Rolle eines Intellektuellen sieht, die mit ihren Sprechakten meint, öffentliche Lehren erteilen zu können. Getroffen hat es den Berufsethiker Julian Nida-Rümelin, einen der Vertreter der "Zombie-Argumente", nach denen der Datenschutz "Tausende Corona-Tote zu verantworten hätte". Neben diesem Unsinn verbreitete Nida-Rumelin, Sprecher für "Digitalisierung" beim Deutschen Ethikrat, noch die unwahre Behauptung, dass Südkorea, Taiwan und Japan mit ortsbasiertem "Contact Tracking" die Pandemie gemeistert hätten.

Die Behauptung kommentierte Linus Neumann, einer der Sprecher des Chaos Computer Clubs, in seinem Blog trocken: "Taiwan nutzt gar keine Contact Tracing App, Japan nutzt die gleiche Corona-App wie Deutschland und auch Südkorea kann nicht als Beispiel herhalten." Was Nida-Rümelin behauptet, hat den Datenschutz-Aktivisten Padeluun so richtig wütend gemacht und so hört sich auch seine Laudatio an: "Nein, Julian Nida-Rümelin und ihr anderen 'Anti-Datenschutz'-Apologeten: Datenschutz tötet nicht. Datenschutz ist die dünne Membran, die uns alle vor der Barbarei staatlicher und kommerzieller Übergriffigkeiten schützt."

So hat Padeluun neben vielen kritischen Worten über den mal als Intellektuellen, mal als Philosophen bezeichneten Vielsprecher Nida-Rümelin einen klugen Vorschlag parat: Ob man vom Datenschutz oder von der informationellen Selbstbestimmung oder gar vom Menschenschutz redet, immer ist dieser Schutz "ein weltweiter Innovationsmotor, ist ein Thema, das wie kein anderes das geschulte philosophische Denken fordert, weil diese verdammte digital vernetzte Welt nun mal nicht mit Hämmern und Nägeln vergleichbar und nicht mit mechanischen Modellen darstellbar ist." Vielleicht fordert ja ein Preis wie der Big Brother Award das klare Denken – auch über die Sinnhaftigkeit so mancher Preiskategorien – und vertreibt das Geschwurbel, Gemunkel und Geraune des Philoso-Viehtreibers.

(bme)