Angeblicher Rechenfehler: Sind E-Autos wirklich klimaschädlicher als gedacht?

Offener Brief von 170 Wissenschaftlern sorgt für Furore. Eine wissenschaftliche Publikation und Debatte wäre besser gewesen. Und ein Blick in die Archive

Anfang dieser Woche sorgte ein offener Brief von 171 Wissenschaftlern für Schlagzeilen, laut denen das Potential zur Reduktion von Treibhausgasen von E-Autos aufgrund eines Rechenfehlers viel zu hoch berechnet worden sei. Die Stuttgarter Zeitung titelte "Rechenfehler bei CO2-Bilanz von E-Autos?", der Focus fragte, ob auf das Diesel-Gate nun das Elektro-Gate folge und die Bild wirft die Frage auf, ob es nur ein Rechenfehler sei, der E-Autos "sauberer" mache, als sie sind. Auch die Zeit griff den offenen Brief an die EU-Kommission auf und betonte, 170 Wissenschaftler aus aller Welt seien der Meinung, die Politik habe sich bei dem Thema grundlegend verrechnet.

Erstes Problem an dieser Darstellung: In der Wissenschaft ist es nicht relevant, wie viele Menschen etwas sagen, sondern wie sie es begründen. In der Regel werden Forschungsarbeiten daher auch bei Fachzeitschriften eingereicht, wo sie von Experten geprüft werden. Das nennt sich Peer Review und ist eines der wichtigsten Instrumente zur Qualitätssicherung wissenschaftlichen Arbeitens.

Dass die Einigkeit von 170 Akademikern allein wenig darüber sagt, ob sie denn auch richtig liegen, zeigte vorletztes Jahr der Fall der 107 Lungenärzte, die eine Stellungnahme unterschrieben, deren zentrale Aussagen auf eklatanten Rechenfehlern beruhten. Hätte Erstautor Dieter Köhler seine Behauptungen damals als wissenschaftliche Arbeit eingereicht, wäre das vermutlich aufgefallen, bevor der halbe Medienbetrieb seine Version verbreitet hätte.

Ein offener Brief kann also auch eine Taktik sein, um ein wissenschaftlich wirkendes Stellungnahme ohne viel Gegenrede in die Medien zu bekommen.

So einfach haben es sich die 171 Unterzeichner um Prof. Thomas Koch vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT) zugegebenermaßen nicht gemacht, denn ihre zentrale Berechnung ist laut Science Media Center zur Publikation im Journal of Applied Mathematics and Mechanics angenommen worden. Bleibt die große Frage, was sie da eigentlich genau berechnet haben. Und an dieser Stelle wird die Sache etwas dubios.

Fragen zum Strommix

Der offene Brief der recht jungen Organisation Iastec bemängelt, dass andere Publikationen den Klimaschaden von E-Autos mit dem im jeweiligen Land vorherrschenden Strommix berechnen. Dieser Ansatz sei falsch. Es wäre an dieser Stelle hilfreich gewesen, wenn die Verfasser des offenen Briefs konkret benannt hätten, von welchen Publikationen sie reden, stattdessen wird schwammig auf "viele Positionspapiere, Entwürfe und sogar begutachtete wissenschaftliche Publikationen" verwiesen.

Die Argumentation, die im Brief anschließend gemacht wird, ist in der Fachwelt nämlich alles andere als unbekannt und ein viel diskutierter Umstand. Es handelt sich um folgenden Gedanken: Angenommen, ich habe ein Stromnetz, das von einem Mix aus fossilen und nicht fossilen Kraftwerken versorgt wird. Was passiert dann, wenn ich einen neuen Verbraucher ans Netz anschließe und alle anderen Faktoren exakt gleichbleiben?

Nun, da Sonne, Wind und Wasser keine Rechnung schicken, erzeugen die erneuerbaren Quellen ohnehin so viel Strom wie sie können. Will man also zusätzliche elf Kilowatt ins Netz zu bringen, um einen VW ID.3 aufzuladen, müsste in diesem Moment ein Kohle- oder Gaskraftwerk die zusätzliche Leistung erbringen. Rechnet man auf dieser Grundlage nun die entstehenden Klimaemissionen einer Fahrt im E-Auto aus, verschlechtert sich die Bilanz natürlich entsprechend.

Die Verwendung dieses Gedankengangs als neues Argument gegen E-Mobilität hat nun zwei eklatante Schwächen:

1. Er ist alles andere als neu. Dr. Jan Wohland, Postdoctoral Fellow am Department für Umweltsystemwissenschaften an der ETH Zürich sagte dazu: "Der Neuheitswert der Ergebnisse ist mikroskopisch klein; die Herleitung und Resultate sind allgemein bekannt und unstrittig".

Dass Emissionen für das Aufladen einer elektrischen PKW-Flotte zu verschiedenen Zeitpunkten aufgrund unterschiedlicher Windstärke und Sonneneinstrahlung variieren, ist in gängigen Modellen zur Berechnung daher berücksichtigt. In der Fachwelt ist der Berechnungsansatz des offenen Briefs als Kalkulation von sogenannten Marginalemissionen bekannt, er wurde als Berechnungsgrundlage für CO2-Emissionen allerdings verworfen. Nicht, weil die Berechnung dieser Mehr-Emissionen grundsätzlich falsch wäre, sondern weil die Zuordnung zu einem bestimmten Verbraucher vollkommen unplausibel ist:

2. Ja, im oben genannten, extrem unwahrscheinlichen Beispiel würde aufgrund eines E-Autos an der Ladesäule ein fossiles Kraftwerk die Leistung erhöhen. Will man dieses Beispiel nun aber auf den gesamten Strommarkt generalisieren, müsste man ja eine willkürliche Reihenfolge festlegen, welche Stromverbraucher bereits am Netz hingen und welche danach erst hinzukamen. Dann wäre es für die Klimabilanz eines Geräts absurderweise nicht mehr entscheidend, wie sparsam es funktioniert, sondern ob es vor einem anderen eingeschaltet wird.

Nach dieser Logik kann ich mir einen uralten Heizlüfter aus Armeebeständen ins Wohnzimmer stellen und den bereits nachmittags einschalten, während noch ungenutzte Solarkapazitäten im Netz sind. Und wenn dann abends meine Nachbarin nach Hause kommt und ihre supereffiziente Wärmepumpe mit minimalem Verbrauch anstellt, dann werfe ich ihr klimaschädliches Verhalten vor, weil mein Verbraucher ja vorher schon an war.