Zahlen, bitte! Linux ist zum 30. Geburtstag 31.479.666 Zeilen schwer

Happy Birthday, Linux! Gemessen an Entwicklungstempo und Wachstum geht es dir ja hervorragend, obwohl es dir an einigen grundlegenden Dingen noch immer mangelt.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 437 Kommentare lesen
Lesezeit: 7 Min.
Von
  • Thorsten Leemhuis
Inhaltsverzeichnis

Mit Linux ist es fast wie mit dem Internet: Es hat viele Geburtstage, je nachdem, wen man fragt oder an welchem Ereignis man den Geburtstag festmacht. Eine Ankündigung auf einer Mailingliste? Die Freigabe der ersten Version? Die Verkündung der Verfügbarkeit?

In der nun langen Geschichte des quelloffenen Linux-Kernels hat sich jedenfalls eines gezeigt: Zunehmen ist leichter als Abnehmen. Im letzten Jahr hat der Betriebssystemkern mit jeder neuen Version circa 385.000 Zeilen zugelegt. Da alle neun oder zehn Wochen ein Release ansteht, sind die Linux-Quellen in den letzten fünf Jahren um fast zehn Millionen Zeilen angewachsen. Beim Hauptentwicklungszweig summieren sie sich so bis zum heutigen Dienstagmittag auf satte 31.479.666 Zeilen – Dokumentation, Kommentare, Build-Skripte und ähnliches mitgezählt.

Von derlei Wachstum dürfte selbst Linus Torvalds nicht zu träumen gewagt haben, als er im April 1991 mit der Entwicklung seines auf den Namen Linux getauften Betriebssystemkerns begann. Der feiert am Mittwoch dieser Woche einen seiner Geburtstage: Am 25. August 1991 verkündete der gebürtige Finne Torvalds seine Arbeit an einem kostenlosen und freien Kernel erstmals einer breiten Öffentlichkeit – via Mail an eine Minix-Newsgroup, in der er die später recht bekannt gewordenen Worte "[…] I'm doing a (free) operating system (just a hobby, won't be big and professional […]" verwendete.

Linux nahm vor 30 Jahren als Hobby seinen Anfang.

(Bild: Screenshot)

Als Geburtstag gilt aber auch der 17. September 1991, denn da hat der damals 22-jährige Torvalds den Quellcode der ersten Version seines Kernels online gestellt. Groß verkündet hat er das allerdings nicht; die Ehre einer solchen Ankündigung fiel erst dem am 5. Oktober 1991 veröffentlichten Linux 0.0.2 zu.

Heute zählt der Betriebssystemkern Linux zu den wichtigsten Stützpfeilern der Software-Welt. Durch die auch in den letzten Jahren weiter gewachsene Bedeutung hat sich das Entwicklungstempo von Linux indes keineswegs verlangsamt, sondern noch weiter beschleunigt: Während Torvalds in den sechs Releases vor dem 25. Geburtstag in jede neue Version durchschnittlich circa 13.750 Änderungen integrierte, sind es dieser Tage über 16.250 Commits pro Release. Umgerechnet auf den ganzen Entwicklungszeitraum sind das 10,4 Änderungen pro Stunde.

Zahlen, bitte!

In dieser Rubrik stellen wir immer dienstags verblüffende, beeindruckende, informative und witzige Zahlen aus den Bereichen IT, Wissenschaft, Kunst, Wirtschaft, Politik und natürlich der Mathematik vor.

Betrachtet man nur die Hauptentwicklungsphase einer neuen Version wie Linux 5.13, dann ist die Schlagfrequenz noch viel höher: In dieser zweiwöchigen Phase, wo das Gros der Änderungen für eine neue Version integriert wird, fließen knapp 45 Änderung pro Stunde in den Hauptentwicklungszweig. Letztlich erfolgt so durchschnittlich alle 80 Sekunden ein Commit.

Auch die Zahl der pro Version hinzukommenden Zeilen steigt stetig, wenn auch weniger steil: Bei den letzten sechs Versionen waren es durchschnittlich je 385.000 Zeilen. Zweimal lag der Wert zeitweise schon circa hunderttausend Zeilen höher, aber das waren Ausreißer.

Tempo und Umfang mögen stetig steigen, der Erscheinungsrhythmus ist jedoch gleich geblieben und berechenbarer denn je: Seit der im März 2012 erschienenen Linux-Version 3.3 hat die Entwicklung einer neuen Version nahezu immer neun oder zehn Wochen gedauert. Größere Abweichungen gab es nur dreimal: Der Kernel 3.16 war schon nach acht Wochen fertig, wohingegen es bei 3.13 und 4.15 elf dauerte.

Daher ist schon jetzt absehbar: Auf die vermutlich am nächsten Montag erscheinende Version 5.14 folgt am 1. oder 8. November Linux 5.15, bevor dann in den ersten Januarwochen des kommenden Jahres Kernel 5.16 ansteht. Zum Herbstanfang 2022 dürfte Linux 6.0 folgen, sofern Torvalds nach 5.19 wieder die erste Zahl der Versionsnummer erhöht, damit die zweite nicht die Anzahl seiner Finger und Zehen übersteigt.

Das alles klingt nach professioneller Organisation – und tatsächlich hat Torvalds seinen Laden und die vielen Helfer gut im Griff. Das sind nahezu durchweg Freiwillige, wobei Hobbyentwickler laut Auswertungen der Linux Foundation nur circa 12 Prozent der beitragenden Entwickler stellen; 84 Prozent sind irgendwo angestellt und schrauben im Auftrag ihrer Arbeitgeber an Linux mit.

Bei Linux 5.13, der derzeit aktuellsten Version der Hauptentwicklungslinie, haben erstmals über 2.000 verschiedene Entwickler je mindestens eine Änderung zum Release beigetragen. 329 von ihnen haben zum ersten Mal etwas beigesteuert. Auswertungen zeigen indes, dass es für einen Teil dieser Entwickler zugleich das letzte Mal ist. Das wiederum ist nicht sonderlich erstaunlich: Man hört immer wieder, dass Leute unbedingt mal eine Änderung beisteuern wollen, um ihren Namen in der Commit-Historie des Kernels zu verankern.

Es gibt aber durchaus auch Entwickler, die kontinuierlich dranbleiben. So haben beispielsweise 452 Personen tatsächlich zu jedem einzelnen der letzten sechs Releases etwas beigetragen. Gerade solche beständig mitwirkenden Programmierer arbeiten fast immer bei einer von rund 200 Firmen und Organisationen, die für ihre Lohnzahlungen natürlich auch einen Gegenwert verlangen. Daher kümmern sich "ihre" Linux-Entwickler meist um Dinge, von denen die Brötchengeber idealerweise direkt oder wenigstens indirekt profitieren.

Komplett nach eigenem Gusto schalten und walten können die wenigsten der angestellten Programmierer. Und die Linux-Foundation selbst hat so gut wie keine Kernel-Entwickler auf ihrer Lohnliste, wenn man von Linus Torvalds, dem als seine rechte Hand geltenden Greg Kroah-Hartman und zwei oder drei weiteren Entwicklern absieht. Kein Wunder also, dass viele unliebsame Fleiß- und Drecksarbeiten liegen bleiben, die andere Organisationen und Open-Source-Projekte durch bezahlte Entwickler erledigen lassen.

Infolge dieses Defizits ist der Entwicklungsprozess extrem zersplittert und wirkt im Vergleich zu modernen Open-Source-Projekten unprofessionell und antiquiert. Den zentralen Figuren hinter Linux ist dies sehr wohl bewusst – aber auch deren Tage haben nur 24 Stunden, in denen sich kaum alle Probleme lösen lassen.

Auch in puncto Sicherheit fehlt es an Entwicklerressourcen, wie der angesehene und wichtige Kernel-Entwickler Kees Cook erst Anfang August in einem längeren Blog-Beitrag erläuterte. Dabei rechnete er vor, dass dem Linux-Kernel selbst eher vorsichtigen Schätzungen zufolge mindestens hundert professionelle Entwickler fehlen.

Ob sich durch das öffentliche Beklagen dieses Mangels etwas tut, bleibt ungewiss: Das Problem besteht schon lange. Wenn sich der Aufwärtstrend hinsichtlich Entwicklungstempo und Umfang bis zum 35. Geburtstag wie zuletzt fortsetzt, dürften die Linux-Quellen dann jedenfalls aus mehr als 40 Millionen Zeilen bestehen und manche Releases mehr als 20.000 Änderungen enthalten.

Bis dahin dauert es aber noch fünf Jahre, in denen viel passieren kann. Fürs Erste daher einfach: Happy Birthday, Linux!

P.S.: Ja, Du darfst Dich im September gerne ein zweites Mal feiern lassen.

(ovw)