Warum Wahlbörsen Abstimmungsergebnisse besser vorhersagen können

Walter Mohr über Wahlprognosen als Aktiengeschäft, "Kurswerte" von Parteien und die Bundestagswahl 2021

Prof. Dr. Walter Mohr leitet das die Prognosys Bewertungs GmbH und experimentiert seit vielen Jahren mit der von ihm entwickelten PESM Wahlbörse zur Vorhersage von Wahlergebnissen. Obwohl die Ergebnisse seinen Angaben zufolge genauer sind als die Vorhersagen vieler repräsentativer Wahlumfragen, arbeiteten Medien mit der Wahlbörse nicht zusammen.

PESM wird als Echtgeldbörsenplatz im Rahmen eines Nullsummenspiels betrieben, bei der die Teilnehmer einen Geldbetrag ihrer Wahl auf ihr Konto einzahlen, um damit handeln zu können. Nullsummenspiele zeichnen sich dadurch aus, dass sämtliche Einzahlungen der Teilnehmer später auch wieder ausgezahlt werden, wobei die Gelder im Spielverlauf umverteilt werden können.

Herr Mohr, Sie haben als Alternative zu Wahlumfragen eine Wahlbörse entwickelt. Was muss man sich darunter vorstellen?

Walter Mohr: Eine Wahlbörse funktioniert fast wie eine richtige Börse. Während an der realen Börse Händler über Käufe und Verkäufe von Aktien den Kurswert von Unternehmen bestimmen, werden analog bei einer Wahlbörse die Prozentwerte von Parteien für eine bestimmte Wahl durch Angebot und Nachfrage von Parteiaktien ausgehandelt. Weil bei Wahlen die Summe der Prozentzahlen für alle Parteien 100 Prozent ergibt, muss diese spezielle Nebenbedingung einbezogen werden.

Dazu gibt es an der Wahlbörse eine Bank, die jeweils ein Bündel von Parteiaktien, in dem jeweils eine Aktie von jeder Partei enthalten ist, für einen Cent verkauft oder kauft. Sie ist also neutral. Durch entsprechende Verkäufe der Bank kommen insbesondere am Anfang mehr Aktien in den Umlauf, durch Käufe werden Aktien entzogen, aber damit steigt die Liquidität der Händler. Diese Vorgehensweise bewirkt, dass immer von jeder Partei dieselbe Anzahl von Aktien an der Börse im Umlauf ist.

In unserer Börse muss ein Betrag von zehn Euro, also 1.000 Cent, eingesetzt werden. Damit könnten maximal von der Bank jeweils 1.000 Aktien von jeder Partei gekauft werden. Es ist wichtig, dass die Wahlbörse ein Nullsummenspiel darstellt. Das heißt, die Summe aller Einsätze wird insgesamt wieder ausgezahlt. Es bleibt kein Geld beim Wahlbörsenbetreiber.

Unsere PESM-Wahlbörse ist zurzeit die einzige in Deutschland, die mit einem realen Geldeinsatz arbeitet, weil dadurch in der Regel sorgfältiger gehandelt wird. Für die Spieler ist es ein Anreiz, in der Renditerangliste möglichst weit oben zu stehen. Die Spielergemeinschaft hat als Gruppe zudem den Ehrgeiz, dass die Prognosen der Wahlbörsen besser ausfallen als die von den Medien völlig zu Unrecht bevorzugten Umfrageinstitute, die zudem auch noch teurer sind.

Wie in dem Buch "Wahlprognosen" von Mohr und Püschel dokumentiert ist, ist die PESM-Wahlbörse in den Gesamtranglisten zu den letzten Bundes- und Landtagswahlen eindeutig in der Spitzengruppe platziert. Unter den Umfrageinstituten liefert nur Forschungsgruppe Wahlen (ZDF) gleichwertige Ergebnisse. Alle anderen Umfrageinstitute sind deutlich abgeschlagen.

In der Literatur gibt es zwei allgemeine Erklärungen für die besondere Güte von Wahlbörsen. Zum einen ist es die Schwarmintelligenz, die aus der Soziologie stammt. Dabei sammeln die Spieler gemeinsam Informationen und verarbeiten diese über viele einzelne Handelsentscheidungen zu einer guten Prognose. Zum zweiten kann man die ökonomische Theorie der informationseffizenten Märkte anführen. Diese besagt kurz formuliert, dass durch den Wettbewerb unter den Teilnehmern die ansonsten ungleich verteilten Informationen am besten aggregiert werden können.

Wahlbörsen in unserer heute verwendeten Form wurden erstmals 1988 von Forsythe und Mitarbeitern entwickelt und bei der US-Präsidentschaftswahl mit großem Erfolg eingesetzt. Bei der letzten Präsidentschaftswahl 2020 hat die Plattform predictit für jeden Bundesstaat eine eigene Wahlbörse eingerichtet und als einzige die Zahlen der Wahlmänner exakt vorausgesagt. Damit hat sie alle Konkurrenten klar geschlagen. Unsere Wahlbörse hat auch mitgemacht und einen guten Mittelplatz belegt.

Bei Wahlumfragen wird eine für die Wähler angeblich repräsentative Zufallsstichprobe ausgewählt und befragt. Was ist daran das Hauptproblem?

Walter Mohr: Umfragen sind die weitaus häufigste Methode zur Bestimmung von Wahlabsichten. Dabei wird meist eine Stichprobe von 1.000 bis 2.500 Wählern aus der Gesamtheit von über 60 Millionen Wahlberechtigten die sog. Sonntagsfrage gestellt: Wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre, welche der folgenden Parteien würden Sie dann wählen?

Die Befragung kann persönlich (face to face) stattfinden wie bei Allensbach. Die meisten Institute arbeiten jedoch telefonisch, per Internet oder einem Mix aus beiden. Das Institut Civey wertet Wahlaussagen aus, die die Wähler ihnen aus eigener Initiative gegeben haben.

Die Umfrageinstitute haben seit Jahrzehnten den Begriff Repräsentativität zu ihrem Goldstandard erklärt. Fast alle glauben, dass dieses ein Qualitätsmerkmal sei. Praktisch will man suggerieren, dass die Stichprobe eine Mini-Abbildung bestimmter sozio-demografischer Merkmale wie Alter, Geschlecht, Bildungsgrad usw. aus der Grundgesamtheit darstellt. Zunächst ist zu bemerken, dass man in der statistischen Stichprobentheorie, die die Grundlage von Umfragen bildet, den Begriff Repräsentativität nicht kennt. Es geht vielmehr um Zufallsstichproben, und mit denen arbeitet man auch.

Danach werden die Rohergebnisse zunächst gewichtet, um diese sogenannte Repräsentativität zu erzeugen und schließlich noch weiter für die Projektion bearbeitet. Bei Forschungsgruppe Wahlen, die den Sachverhalt weitgehend offenlegt, bringt erst der zweite Schritt eine wesentliche Prognoseverbesserung. Die anderen Institute, außer GMS und dem Neuling Wahlkreisprognosen, lassen sich nicht in die Karten sehen.

Wenn man Transparenz bei allen Instituten einfordern würde, würde man sehen, wie sehr sich diese Rohdaten unterscheiden und wie starke Veränderungen daran vorgenommen werden. Neben der hohen Antwortverweigerung von mindestens 80 Prozent der Befragten (auch hierfür gibt es kaum Veröffentlichungen) sind die falschen Antworten aus sozialer Erwünschtheit ein weiterer systematischer Fehler.

So werden bei Forschungsgruppe Wahlen die Anteilswerte für die AfD zunächst deutlich unterschätzt, sodass dieses Institut, durch Erfahrungswerte bestätigt, für die endgültige Projektion etwa vier Prozentpunkte hinzuzählt. Ein anderes Problem hat Forsa-Chef Güllner kürzlich benannt, dass nämlich Befragte häufig nicht zugeben, nicht zur Wahl zu gehen.

Kurzum besteht meine Kritik darin, dass man die Rohdaten nicht transparent offenlegt. Ferner sollte empirisch nachgewiesen werden, dass die sog. Repräsentativität nicht nur ein Phantom, sondern ein Qualitätsmerkmal ist. Das wird wie seit Jahrzehnten natürlich nicht passieren. Somit bleibt nur der objektive Vergleich der Prognosegüte von Umfragen und Wahlbörsen. Obwohl wir das schon lange machen, insbesondere in unserem Buch "Wahlprognosen" von Mohr und Püschel, reagieren Medien, Politik und Allgemeinheit nicht darauf.

Damit kommen wir zu einem zweiten, deutlich kritischeren Aspekt. Warum wird z.B. die PESM-Wahlbörse von keiner der etwa 100 angeschriebenen Zeitungen (Medien) als Kooperationspartner für die Bundestagswahlen genommen, obwohl sie nachweislich billiger ist und (mit Ausnahme von FGW) im Durchschnitt deutlich bessere Ergebnisse liefert. Was man sieht, sind starke soziale Netzwerke zwischen Medien, Politik und Umfrageinstituten.

Vielleicht möchte man auch öffentlich klare Positionen vermeiden. Dabei sind wir viel friedlicher als früher der unerschrockene Kollege Ulmer von der Universität Wuppertal, der Wahlprognosen als Wählertäuschung beschrieben hat und durch seine fundierten statistischen Argumente vor Gericht seine Aussage nicht widerrufen musste. Wir machen es seit 20 Jahren anders und richten uns nach der alten Fußballerweisheit, dass die Entscheidung auf dem Platz fällt. Wir haben, häufig auch ohne Unterstützung, unsere Wahlbörse zu Land- und Bundestagswahlen erfolgreich durchgeführt. Die aktuellen Ergebnisse werden wir hier nach den Wahlen präsentieren.