Interview: Warum Informatik Pflichtfach sein sollte

Noch haben längst nicht alle Bundesländer Informatik als Schulfach eingeführt und dort, wo das Fach bereits im Stundenplan steht, fehlen die Fachlehrer.

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Digitalisierung in der Schule

Schülerinnen arbeiten an Computern: Die Digitalkompetenz der «Generation Smartphone» stagniert in Deutschland.

(Bild: dpa, Friso Gentsch/dpa)

Lesezeit: 8 Min.
Von
  • Dorothee Wiegand

Die Informatik-Didaktikerin Ira Diethelm setzt sich dafür ein, dass es zügig vorangeht mit dem Pflichtfach Informatik. Was das mit mündigen Bürgern, Chancengerechtigkeit für Mädchen und Qualität in der Lehrerbildung zu tun hat, erklärt sie im Gespräch mit c’t.

c’t: Sie setzen sich für ein eigenständiges Schulfach Informatik an allgemeinbildenden Schulen ein. Warum?

Ira Diethelm: Ohne Sachkompetenz gibt es keine Urteilskompetenz. Wenn ich beispielsweise glaube, dass die Erde eine Scheibe ist, dann kann ich nicht über den Klimawandel diskutieren. So ist es auch mit dem Internet: Wenn ich glaube, dass das Web nur diese Mattscheibe ist, die ich vor mir sehe, dann kann ich nicht mitreden. Es muss so sein, dass jeder genügend weiß, um sich über Netzneutralität, Vorratsdatenspeicherung oder Uploadfilter ein fundiertes Urteil zu bilden.

Ein Pflichtfach Informatik trägt zur Mündigkeit aller Bürgerinnen und Bürger bei. Das ist auch ein Beitrag zur Gleichberechtigung. Es muss in jedweder Schulform völlig selbstverständlich werden, dass alle in der Schule Informatik machen müssen und sich alle damit auskennen.

Ira Diethelm ist als Professorin an der Uni Oldenburg unter anderem für die Ausbildung von Informatiklehrkräften verantwortlich. Die Informatik-Didaktikerin ist Mitglied des Präsidiums der Gesellschaft für Informatik und des Digitalrats Niedersachsen.

(Bild: Uni Oldenburg)

c’t: Kann die Vermittlung von Medienkompetenz und IT-Kenntnissen nicht als Querschnittsaufgabe in den bestehenden Schulfächern stattfinden?

Diethelm: Wir brauchen beides, einerseits ausgebildete Profis, die dieses Fach unterrichten, und andererseits Lehrkräfte aller Fächer, die selbst ein solides Verständnis der Informatikgrundlagen haben – für ihren Alltag als Lehrkraft und für diese Querschnittsaufgabe Medienbildung. Im Augenblick haben wir vielerorts beides nicht. Wie will ich etwas als Querschnitt unterrichten, von dem ich nichts verstehe?

"Wer studiert schon das Lehramt für ein Fach, das es nicht gibt?"

Hinzu kommt: Derzeit wählen in Niedersachsen kaum Lehramtsstudierende Informatik als Unterrichtsfach und auch in der Breite gibt es kaum Pflichtveranstaltungen zu Informatik oder Medienbildung für alle Lehramtsstudierenden. Daher brauchen wir das eigenständige Fach, denn wer studiert schon das Lehramt für ein Fach, das es nicht gibt? Es geht hier also auch darum, die Qualität in der Lehrkräftebildung zu sichern. Und nur wenn ich ein Schulfach Informatik habe, habe ich die entsprechende Ausbildung für Lehrkräfte. So dient das Pflichtfach auch der Qualitätssicherung.

Außerdem garantiert das eigenständige Fach ein klares Feedback für das, was die Schülerinnen und Schüler leisten, in Form von Noten. Das ist gerade für die Mädchen sehr wichtig.

Informatische Bildung für alle

Pflichtfach Informatik

Weil Bildung Ländersache ist, regelt jedes der 16 deutschen Bundesländer den Informatikunterricht auf seine Weise. Nordrhein-Westfalen hat jetzt ein Pflichtfach Informatik eingeführt und macht dabei vieles ganz anders als andere Länder.

c’t: Warum sind Schulnoten so wichtig?

Diethelm: Damit die Schülerinnen eine Bestätigung bekommen. Weltweit – das zeigt ja die ICILS-Studie (Vergleichende Studie "International Computer and Information Literacy Study“, Anm. der Redaktion) – schätzen sich die Jungs in Bezug auf Computer besser ein als die Mädchen. Jungs in der Grundschule glauben auch, dass sie besser Geschichten erzählen können als Mädchen.

Was die ICILS-Studie aber auch gezeigt hat, ist, dass die Mädchen weltweit tatsächlich eine höhere Computerkompetenz haben als die Jungs. Die Mädchen wissen es aber nicht. Das heißt, sie brauchen jemanden, der ihnen das bescheinigt und – vielleicht auch im Gegensatz zu Ihren Eltern – ihre Talente in Bezug auf Technik und Informatik erkennt und fördert. Und das sind die Lehrkräfte in einem Pflichtfach Informatik.

Bis zum Beginn der Pubertät befassen sich Mädchen unvoreingenommen mit Informatikthemen.

c’t: Kritiker eines eigenständigen Schulfachs Informatik sagen, dass sich der Stoff sehr schnell weiterentwickele, sodass die Schüler das Gelernte nach ihrem Abschluss gar nicht mehr gebrauchen können.

Diethelm: Unser Auftrag ist es, die Kinder zu befähigen, genau diesen stetigen Wandel überhaupt zu erkennen und zu verstehen – aber auch zu verstehen, welche gleichbleibenden Prinzipien ihn verursachen. Zum Beispiel das Internet: Das hat nun seit über 50 Jahren die gleichen Regeln, sieht aber gefühlt jeden Tag anders aus. Wenn ich die gleichbleibenden Prinzipien verstanden habe, dann wirft es mich nicht aus der Bahn, wenn neue Apps auftauchen, sondern ich kann mir immer neue Phänomene erklären.

c’t: Ein anderes Argument der Kritiker geht so: Es kann doch nicht Aufgabe der Schule sein, den Kindern beizubringen, wie man mit Microsoft Word Texte schreibt.

Diethelm: "Lernen mit“ und "Lernen über“ wird gern verwechselt. Es geht um einen Unterricht, der Konzepte, nicht Produkte in den Vordergrund stellt. Beim Beispiel Textverarbeitung bedeutet dies, dass Schüler das Prinzip der Dokumentvorlagen in einem Textprogramm kennenlernen, aber auch Präsentationsmaster und CSS – und dann die Gemeinsamkeiten entdecken und so die Idee einer Vorlage verstehen. Wo man klickt, ist hier nicht der Bildungsauftrag.

c’t: Eine andere Frage, die Kritiker oft stellen: Wie schafft man Platz für das neue Fach in den übervollen Stundentafeln der allgemeinbildenden Schulen?

Diethelm: Was würde denn passieren, wenn man die Stundentafel ganz neu schreibt und dabei jedes Fach seine Stunden neu argumentieren müsste? Dass jemand, der auf dem Sofa sitzt, nicht aufsteht, um für jemand anderen Platz zu machen – das ist ja klar. Aber was passiert, wenn alle begründen müssen, warum sie sich hinsetzen dürfen und wie breit sie sich machen? Sind einige Inhalte vielleicht auch nur da, weil es so schön bequem ist, immer das Gleiche zu unterrichten? Muss es wirklich sein, dass alle auf dem Gymnasium eine zweite Fremdsprache lernen? Wäre ein technisches Fach nicht auch im Sinne der nötigen Breite und Vielfalt angebrachter?

"Wir sind der Ansicht, dass Schule ihrem Bildungsauftrag ohne Informatik nicht nachkommen kann."

Einige Dinge scheinen einfach gesetzt. Diese sollten infrage gestellt werden. Man kann sich zum Beispiel auch die Stundentafeln der Länder ansehen, die es geschafft haben, das Fach Informatik einzuführen. Wir Informatik-Didaktiker sind der Ansicht, dass Schule ihrem Bildungsauftrag ohne Informatik nicht nachkommen kann. Aber es ist nicht unsere Aufgabe, festzulegen, was wegfallen kann. Es ist die Aufgabe der Kultusministerien, abzuwägen und verantwortungsvoll zu entscheiden, wie der Bildungsauftrag erfüllt werden kann. Auch nichts zu verändern, kann schädlich sein.

c’t: Voraussetzung dafür, Informatikunterricht flächendeckend anbieten zu können, sind ausreichend viele Informatik-Lehrkräfte. Wie sieht es da aus?

Diethelm: Wir haben in Niedersachsen etwa 900 weiterführende Schulen. Wenn wir dort auch nur in zwei Jahrgängen Informatikunterricht anbieten wollen, dann brauchen wir mindestens zwei Lehrkräfte pro Schule. Wenn der Unterricht in mehr Jahrgängen stattfinden soll, dann brauchen wir das Doppelte. Zum Vergleich: Wir haben derzeit ungefähr 4000 Chemie-Lehrkräfte, und auch das sind eigentlich zu wenige.

Wenn wir schauen, wie viele Informatik-Lehrkräfte wir in Niedersachsen haben: Da dümpeln wir seit Jahrzehnten nur bei etwa 600. Wobei man auch noch sagen muss, dass davon viele in den Schulleitungen sitzen und den Stundenplan machen – weil sie sich ja mit der Technik auskennen – sodass sie gar nicht so viele Stunden geben.

c’t: Wie lange wird es dauern, bis genügend Informatik-Lehrkräfte ausgebildet sind?

Diethelm: Bayern hat das Pflichtfach Informatik soweit ich weiß mit drei Jahren Vorlauf eingeführt. Niedersachsen plant das auch so. Wir müssen natürlich erst durch ein Tal hindurch und man muss Geld in die Hand nehmen für die Lehrerausbildung. Aber sobald Informatik Pflichtfach ist, werden es auch mehr Lehramtsstudierende wählen. Wir sollten außerdem Studierende fürs Lehramt in anderen Fächern davon überzeugen, Informatik noch dazuzunehmen.

Häufig wird gesagt, es gehöre so viel Mathe zu einem Informatikstudium. Das schreckt ab! Man kommt aber auch mit vergleichsweise wenig Mathe-Kenntnissen durch ein Informatik-Lehramtsstudium. Eine Grundneugier gehört natürlich dazu und sicher auch logisches Denken, aber kein Mathe-Leistungskurs. Freude am Unterrichten und an der praktischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen sind da wichtiger.

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(dwi)