Shopify-Gründer Tobi Lütke: "CEOs müssen die Hüter der Qualität sein"

Tobias Lütke hat in Kanada einen Softwarekonzern aufgebaut, der mehr wert ist als SAP. Im Interview erklärt er, warum das Geldverdienen für ihn zweitrangig ist.

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(Bild: Shopify)

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Tobi Lütke? Nie gehört! Selbst in nerdigen Gefilden wie der c’t-Redaktion kennen nur wenige den Namen des in Koblenz aufgewachsenen Gründers und Chefs des kanadischen Softwarekonzerns Shopify. Dabei kann man mit Fug und Recht behaupten, dass Lütke aktuell der erfolgreichste deutsche Gründer ist: Shopify war bei Redaktionsschluss an der Börse umgerechnet 160 Milliarden Euro wert – zehn Milliarden Euro mehr als SAP, der wertvollste deutsche Konzern.

Gemessen am Umsatz (2020 umgerechnet etwa 2,6 Milliarden Euro) und der Zahl der Mitarbeiter (über 7000) wirkt Shopify zwar noch klein. An der Börse geht es aber in erster Linie um die Zukunft: Viele Analysten glauben, dass Lütkes Unternehmen weiterhin in atemberaubendem Tempo wachsen wird und dem Giganten Amazon Paroli bieten kann.

Shopify bietet Online-Händlern ein einfach einzurichtendes Shopsystem samt Hosting und Bezahldiensten. Aktuell nutzen rund 1,7 Millionen Händler die Software, und alle 28 Sekunden verkauft ein neuer Händler zum ersten Mal etwas über Shopify.

Wegen des astronomischen Börsenwerts gehört Lütke zum kleinen Kreis der deutschen Tech-Milliardäre. Aber das ist nicht das Einzige, was ihn interessant macht. Ziemlich einzigartig ist auch die Geschichte seines Aufstiegs: Anders als viele andere Gründer hat Lütke nicht an einer Elite-Uni studiert oder bei einer Unternehmensberatung gearbeitet.

Er wirkt in vielerlei Hinsicht eher wie ein klassischer Techie: In seiner Jugend interessierte er sich in erster Linie für Computer. Als er sechs Jahre alt war, kauften seine Eltern einen Schneider CPC. Lütke schrieb C64-Spiele um, damit sie darauf liefen. Dabei halfen ihm Listings aus Zeitschriften wie c’t. Dass er sich so das Programmieren beigebracht hatte, war ihm damals nicht bewusst – für ihn war das einfach das, was man eben an Computern macht.

Für die Schule konnte er sich weniger begeistern. Nach der Mittleren Reife verließ er das Gymnasium und begann in seiner Heimatstadt Koblenz eine Ausbildung zum Fachinformatiker. 2002 zog er nach Kanada zu seiner Freundin, die er dort in einem Skiurlaub kennengelernt hatte. Zum Unternehmer wurde er dann mehr oder weniger aus Zufall: Als Zuwanderer durfte er in Kanada nicht arbeiten, aber eine Firma gründen.

Das folgende Interview beruht auf einem Mitte Oktober geführten Live-Talk, in dem Lütke Fragen von c’t und von Zuschauern beantwortete. Aus Gründen der Authentizität haben wir auch in der schriftlichen Fassung das "Du" des formlosen Live-Talks beibehalten.

Hier finden Sie das Gespräch mit Tobi Lütke in voller Länge als Video. Die Fragen wurden von c’t und von Zuschauern gestellt.

c’t: Tobi, du hast in deiner Jugend auch mithilfe von Computerzeitschriften Programmieren gelernt. War die c’t dabei?

Lütke: Ja, natürlich, die c’t war ein wichtiger Teil meiner Jugend. Ich bin in Koblenz aufgewachsen, also in einer relativ kleinen Stadt. Dort kannte ich niemanden, der Computer so interessant fand wie ich. Die c’t war meine Verbindung zu dieser Welt. Das war Ende der 80er-, Anfang der 90er-Jahre.

Einmal ging ich mit meiner Familie auf eine Kreuzfahrt, anlässlich eines runden Geburtstages meiner Großmutter. Die Reise hat mich damals nicht wirklich interessiert. Also habe ich einen Koffer voller c’t-Hefte mitgenommen – die waren damals sehr dick – und die zwei Wochen lang hoch und runtergelesen.

Lustig finde ich: Mir hat erst Jahre später jemand erklärt, dass das Programmieren war, was ich damals zum Beispiel mit den Basic-Listings aus der c’t gemacht habe. Für mich war das einfach "Computer benutzen" (lacht).

c’t: Im Anschluss an deine Ausbildung zum Fachinformatiker bist du nach Kanada zu deiner Freundin gezogen. Dort hast du 2004 einen Onlineshop für Snowboards namens Snowdevil gegründet. Wie kam es dazu?

Lütke: Ich hatte in Kanada damals keine Arbeitserlaubnis. Ein Anwalt hat mir zum Glück gesagt, dass man auch ohne Arbeitserlaubnis ein Unternehmen gründen kann.

c’t: Wie wurde aus Snowdevil Shopify?

Lütke: Mit der damals üblichen Software fand ich es extrem kompliziert, den Onlineshop einzurichten. Deshalb habe ich selbst ein Shop-System programmiert. Durch diese Erfahrung wurde mir klar, dass es für viele andere Menschen vermutlich unmöglich war, ein Internet-Business aufzubauen. Also haben meine Mitgründer und ich die Firma 2006 in diese Richtung umgekrempelt. Wir wollten unsere Software an andere weitergeben.

c’t: Was gibst du Leuten mit auf den Weg, die gründen wollen? Was können sie von Shopify lernen?

Lütke: Der Grund, warum man es macht, ist sehr wichtig. Es sollte nicht darum gehen, möglichst schnell etwas Großes aufzuziehen. Oder darum, auf Partys von Venture-Capital-Fonds zu gehen. Die besten Firmen sind normalerweise die Firmen von Leuten, die ein Problem lösen, das sie selbst gehabt haben.

c’t: 2008 hast du dann den Chefposten übernommen. Was macht aus deiner Perspektive einen guten CEO aus?

Lütke: Ich habe damals eine Prioritätenliste geschrieben. Nummer eins: Lasst uns das bestmögliche Produkt bauen. Nummer zwei: Wir müssen ab und zu Geld verdienen, damit wir Prio eins finanzieren können. Die dritte Prio: Niemals Prio eins und zwei verwechseln. Ich finde es interessant, wie häufig Firmen das falsch herum machen. Das ist bis heute eigentlich mein Hauptjob bei Shopify: Herumrennen und jeden daran erinnern, dass es das Wichtigste ist, ein gutes Produkt zu machen. CEOs müssen die Hüter der Qualität sein.

Vielleicht spielt dabei auch eine Rolle, dass ich in Europa aufgewachsen bin. Der Mindestanspruch an Qualität ist in Europa einfach höher als in Nordamerika. Man sieht das auch in der Open-Source-Welt. In den USA und China wird oft früh veröffentlicht und schnell weiterentwickelt, was klasse ist. Aber wenn man Produkte macht, ist es wichtig, dass jedes Release funktioniert, dass der Support funktioniert. Das ist ein sehr deutscher Ansatz.

c’t: Was man auch daran sieht, dass es kein deutsches Wort für "Minimum Viable Product" gibt…

Lütke: Ja. Aber selbst hier in Nordamerika wird das Konzept häufig missverstanden. Das MVP von einem Auto ist nicht eines der Räder. Das ist unnütz. Das MVP von einem Auto ist ein Skateboard. Damit kann man testen, ob das Konzept funktioniert.

c’t: Dir war es nach eigenen Angaben immer wichtig, mit Shopify kleine Händler zu unterstützen. Mittlerweile kooperiert Shopify aber auch mit großen Konzernen wie Walmart oder Facebook. Ist das ein Strategiewechsel?

Lütke: Nein, im Gegenteil. Unser Hauptanliegen war immer und ist immer noch, Menschen bei der Unternehmensgründung zu helfen. Die wichtigste Kennzahl für uns ist, dass alle 28 Sekunden ein neuer Store zum ersten Mal ein Produkt verkauft. Darum geht es auch bei unseren Kooperationen mit großen Konzernen: Dass kleine Händler ihre Produkte nicht nur auf ihrer Webseite verkaufen können, sondern zum Beispiel auch bei Walmart, Facebook oder Instagram. So stellen wir kleinen Unternehmen die Tools zur Verfügung, die sonst großen Unternehmen vorbehalten wären.

c’t: Viele große Tech-Unternehmen setzen mittlerweile sehr auf Heimarbeit. Wie ist das bei Shopify?

Lütke: Das hat sich stark geändert. Wir waren früher relativ bürozentriert, aber als die Pandemie begann, blieben die Leute zu Hause – und das hat direkt funktioniert. Ich war seit Februar letzten Jahres in keinem Büro mehr. Und ich denke, wir bei Shopify werden wahrscheinlich auch nicht mehr in die Büros zurückkehren.

c’t: Wie wirkt sich das auf eure Unternehmenskultur aus? Hast du schon Dinge mitbekommen, die sich negativ verändert haben?

Lütke: Es gibt Vor- und Nachteile. Aber ich schätze, unsere neue Firmenkultur ist unter dem Strich besser als die alte, weil wir unheimlich viele tolle Leute gefunden haben, die wir sonst nicht hätten einstellen können. Wir haben zum Beispiel jemanden eingestellt, der in Arizona in der Wüste wohnt. Der wäre bestimmt nicht nach Ottawa gekommen.

c’t: Wir wollen mit dir auch über die Technik hinter Shopify sprechen. Ihr habt als eines der ersten Unternehmen auf das quelloffene Web-Framework Ruby on Rails gesetzt. War das im Rückblick die richtige Strategie oder hättet ihr besser auf eine erprobte Sprache wie Java oder C gesetzt?

Lütke: Shopify hätte ohne Ruby on Rails nicht funktioniert. Ich bin in den 90ern mit der Demo-Szene aufgewachsen, wo es um Programmieren für die Kunst ging, um Programmieren aus Spaß. Ruby on Rails hat dazu perfekt gepasst. Ein erklärtes Ziel der Sprache ist, dass Entwickler Freude daran haben. In der Anfangszeit von Shopify waren wir noch ein ganz kleines Team, aber dank Ruby extrem produktiv. Das hat uns motiviert. Und jetzt können wir mit unseren Entwicklerteams der Ruby-Community viel zurückgeben. Das bedeutet mir sehr viel.

c’t: Gibt es bei Shopify noch technische Altlasten, die du gerne schon seit zehn Jahren los wärst?

Lütke: Ja, aber an all diesen Dingen bin ich selbst schuld (lacht). Ich wünschte, ich hätte mich etwas näher mit den theoretischen Grundlagen von Warenwirtschaftssystemen befasst, bevor ich Shopify entwickelt habe. Da hatte ich ein paar merkwürdige Ideen. Aber so richtige Fehler? Intern reden wir auch gar nicht von Fehlern. Wir versuchen, das aus unserem Wörterbuch zu streichen. Wir nennen es: Das erfolgreiche Entdecken von Dingen, die nicht funktioniert haben.

c’t: Was waren die größten technischen Umbrüche bei Shopify?

Lütke: Das ist schwer zu sagen. Umbrüche gibt es eigentlich ständig, das Internet bewegt sich so schnell. Wir sehen uns bei Shopify deswegen weniger als eine Fabrik im Sinne von Henry Ford, eher als ein komplexes, adaptives System.

Aber natürlich war zum Beispiel der Umbruch hin zum mobilen Internet wichtig, als erstmals mehr als die Hälfte der Zugriffe von Smartphones kam. Dann der Wechsel zu Cloud und Software-as-a-Service, zum Multichannel-Vertrieb, zum Beispiel über Social-Media-Apps. Ich kenne keinen 13-Jährigen, der den Webbrowser noch auf dem Homescreen seines Smartphones hat. Das Web ist nicht mehr so wichtig, wie viele Leute denken. Und man muss sich auf vieles vorbereiten: Auf AR, VR, Krypto. Und interessanterweise hat Covid das Surfen mit Notebooks und Desktop-PCs wieder zurückgebracht. Die einzige Sache, die statisch bleibt, ist, dass sich alles ständig ändert.

c’t: Wird Shopify bald Kryptowährungen akzeptieren?

Lütke: Händler können über Shopify schon seit 2012 Bitcoin annehmen. Das Problem ist: Nur wenige Kunden wollen damit bezahlen, wegen des volatilen Kurses. Aber Stablecoins – stabile digitale Währungen – sind extrem interessant. Das ist der Teil der Welt, der sich momentan am schnellsten dreht. Aber im Moment sind andere Dinge für unsere Händler noch wichtiger.

c’t: Welche denn?

Lütke: Wir bauen Logistikzentren. Damit können wir den Händlern auf unserer Plattform mit am besten helfen.

c’t: Shopify wird also Amazon noch stärker Konkurrenz machen?

Lütke: Amazons Logistik ist unglaublich. Das ist eines der beeindruckendsten Produkte, die je gebaut wurden. Wir stehen da erst am Anfang. Aber hoffentlich kann man in der Zukunft von einem kleinen Shopify-Händler bestellen, und das Paket kommt dann aus einem Logistikzentrum in der Nähe.

c’t: Wie sieht es mit AR und VR aus? Glaubst du, dass wir bald alle in der virtuellen Realität leben?

Lütke: Es wird nicht so aussehen, wie wir uns das vorstellen, aber es wird kommen. Ich mache eines meiner Meetings pro Woche in VR, mit Facebooks Horizon Workrooms. Das funktioniert enorm gut. Aber die Einrichtung ist kompliziert, und die Headsets nerven nach einer oder zwei Stunden. Es dauert also noch, aber es kommt. Wir brauchen vor allem noch bessere AR-Brillen. Das Problem der Projektion ist gelöst, aber es bleibt das Problem mit den Linsen. Das ist übrigens eine Riesenchance für Deutschland, die deutsche Industrie hat in diesem Bereich viel Erfahrung.

c’t: Letzte Frage: Wirst du demnächst auch Raketen ins All schicken wie Jeff Bezos und Elon Musk?

Lütke: Nein, nein, das ist nicht mein Ding. Für mich ist der Klimawandel das wichtigere Problem. Ich finde den Planeten Erde klasse. Das ist der beste Planet, den wir haben. Und den müssen wir so hinkriegen, dass wir dauerhaft hierbleiben können.

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(cwo)