Verbände: EU muss Chip-Produktion jenseits von Prestigeprojekten ankurbeln

ZVEI und Digital Europe fordern, die EU müsse mit dem "European Chips Act" die Versorgung mit Halbleitern aller Größen sicherstellen. 5 nm seien nicht alles.

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(Bild: Maksim Shmeljov/Shutterstock.com)

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Die EU-Kommission sollte sich mit dem geplanten Chips-Gesetz nicht allein auf Vorzeigeprojekte für die Fertigung von Halbleitern mit Strukturbreiten von 5 Nanometern und feiner konzentrieren. Vielmehr gelte es, die Versorgung von Schlüsselsektoren der Wirtschaft wie die verarbeitende Industrie, die Unterhaltungselektronik und das Gesundheitswesen mit Mikrochips aller Größen zu sichern. Dafür machen sich der Zentralverband der Elektrotechnik-Industrie (ZVEI) und der IT-Dachverband Digital Europe stark.

Laut den Vorgaben für die im Juli gestartete neue europäische Allianz für Prozessoren und Halbleitertechnologien soll die Branche in Europa ihre Fertigungskapazitäten auf 16- bis 10-nm-Strukturen umstellen, "um den aktuellen Bedarf zu decken". Mittelfristig werden "5 bis 2 nm und darunter" angestrebt, "um den künftigen Technologiebedarf vorwegzunehmen".

EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton erklärte vorab, dass die moderneren europäischen Halbleiterwerke derzeit mit Strukturbreiten von um die 30 nm fertigen. Globalfoundries bietet in Dresden einen speziellen 22-nm-Prozess mit Fully-Depleted-SOI-Technik (22FDX) an. Künftig soll die EU verstärkt mit Strukturbreiten von 22 bis 10 nm produzieren. Letztlich plädierte Breton aber für den Aufbau von Kapazitäten, um "die modernsten Chips in Richtung 2 nm und darunter" entwickeln und produzieren zu können.

Die derzeitigen Lieferengpässe bei Halbleitern "betreffen zahlreiche europäische Unternehmen aus allen Branchen", erklären dazu die beiden Verbände auf Basis eines am Donnerstag veröffentlichten Strategiepapiers des ZVEI. Die Industrie brauche in den kommenden Jahren sowohl Chips größerer als auch kleinerer Strukturgrößen. Bei Spitzeninnovationen geht es nicht nur um Messlatten wie 5 nm und darunter, "sondern um die gesamte Wertschöpfungskette". Wichtig seien also etwa neue Produktionsverfahren und -anlagen sowie Materialien.

Der angekündigte European Chips Act müsse etwa ein günstiges Umfeld für Investitionen schaffen, betonen die Industrievertreter. Es gelte, Steueranreize zu setzen, Baugenehmigungen zu beschleunigen sowie den Nachwuchs stärker zu fördern. Die EU sollte ihre Produktionskapazitäten ausbauen, "nachdem sie vorher eine sorgfältige Analyse durchgeführt hat, die sich vor allem an der Marktnachfrage orientiert".

"Es wäre eine unzulässige Abkürzung, den Begriff der führenden Technologie nur auf Strukturgrößen von weniger als 5 nm anzuwenden", heißt es in dem ZVEI-Papier. So seien etwa Leistungshalbleiter weit über dieser Größe oder optische Sensorzellen in Bereichen zwischen 130 oder 350 nm ebenfalls "Leading Edge".

Die Spitzenfertigung im Sinne von unter 5 nm sollte zwar in Europa "integraler Bestandteil einer Entscheidung zum Aufbau eines innovativen und integrativen Ökosystems der Halbleiterindustrie im nächsten Jahrzehnt sein", schreiben die Autoren. Eine solche Fertigungsstätte könne – wie GSM, das Satellitenprojekt Galileo oder die 6G-Initiative – ein Leuchtturmprojekt sein, um Koordinaten festzulegen und den Anspruch als führender Technologiestandort zu untermauern. "Es muss jedoch sichergestellt werden, dass etwaige Subventionen hierfür andere Potenziale der Industrie in Europa nicht beeinträchtigen."

Ausrüster und Fertiger sehen für reine Vorzeigeprodukte mit sehr kleinen Strukturgrößen in der EU derzeit kaum Bedarf. Sie warnten im April vor einem Milliardengrab, wenn mit Geld vom Staat Fabriken ausländischer Produzenten in der EU gefördert würden. Analysten schätzen, dass angesichts des großen Technologie- und Kapazitätsvorsprungs von Unternehmen wie TSMC aus Taiwan und Samsung aus Südkorea die EU, die USA und China über einen Zeitraum von fünf Jahren jeweils 30 Milliarden US-Dollar pro Jahr investieren müssten, um zu den Marktführern aufzuschließen.

Ältere Fertigungsprozesse mit Strukturen von 28 nm und größer kommen derzeit bei vielen (Mikro-)Controllern und Power-Management-Schaltungen (PMICs) zum Einsatz, die etwa für Autos wichtig sind. Solche Halbleiter in den Bereichen 16 bis 40 nm machen laut der Stellungnahme noch immer "einen erheblichen Anteil der weltweiten Chipnachfrage aus". Dies werde sich in den nächsten 10 bis 15 Jahren kaum ändern. Für viele Projekte in den Zukunftsfeldern der industriellen Wertschöpfung wie dem Internet der Dinge und Edge Computing, bei Mobilfunkstationen und Branchen wie dem Autobau und der Pharmaindustrie seien auf reine Leistung optimierte High-End-Chips nicht notwendig.

Viele Halbleiterkomponenten für die Industrie müssten mit einer Reihe anderer Dienste kommunizieren und eine Verbindung zwischen der digitalen und der analogen Welt herstellen, halten die Verfasser fest. Hier würden gemischte Hochspannungs-Technologien mit Strukturgrößen über 65 nm verwendet, die in ihren jeweiligen Anwendungen ebenfalls Spitze seien. Bedarf für die Datenverarbeitung mit Mini-Chips unter 10 nm bestehe dagegen etwa bei Radarsensorsysteme für autonomes Fahren, Systemen Künstlicher Intelligenz und 6G-Basisstationsprozessoren für die Signalverarbeitung.

Auch zur vielbeschworenen "technologischen Souveränität" äußert sich der ZVEI. "Einerseits muss die Politik der EU und Deutschlands das Entstehen einseitiger Abhängigkeiten vermeiden, andererseits darf dies aber nicht als Argument für autarke Strukturen herhalten", ist dem Papier zu entnehmen. Ziel sollte es sein, "gemeinsam mit einer starken Halbleiterindustrie die Interessen Europas durch funktionierende internationale Handelsbeziehungen durchzusetzen und gleichzeitig ein hohes Maß an industrieller Resilienz zu realisieren, um eine unabhängige Entscheidungsfindung zu gewährleisten".

Es wird den Experten zufolge in den kommenden Monaten und Jahren entscheidend sein, eine Balance zwischen "Offenheit" und "Autonomie" zu erreichen. Der gegenwärtige "Ausverkauf" von Know-how und gewerblichen Schutzrechten für Prozessorkerne müsse gestoppt werden. Um die europäische Halbleiter-Wertschöpfungskette sollten aber auch Open-Source-Optionen nicht ausgeschlossen werden.

Zu bedenken ist zudem, dass die EU auch mit einem Ausbau der lokalen Chipproduktion international abhängig bleiben dürfte: Das sogenannte Packaging, also das Verheiraten von Siliziumchips mit Trägern, findet üblicherweise in Asien statt. Wichtige Chemikalien für die Fertigung liefern insbesondere Japan sowie Südkorea. Verbreitete Chipdesign-Werkzeuge stammen aus den USA, etwa von den Firmen Cadence und Synopsys.

(bme)