HP-35: Zum 50. Geburtstag des ersten wissenschaftlichen Taschenrechners

Marketing-Strategen gaben dem HP-35 keine Chance, HPs Experten rieten sogar von der Produktion ab. Aber sie unterschätzten die Ingenieure und Wissenschaftler.

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(Bild: Michael Vi/Shutterstock.com)

Lesezeit: 8 Min.
Von
  • Andreas Stiller
Inhaltsverzeichnis

Vor 50 Jahren, Anfang Februar 1972, brachte HP den ersten wissenschaftlichen Taschenrechner heraus: den HP-35. HPs Marketing-Manager räumten so einem "Spielzeug" zwar nur wenig Chancen ein und das beauftragte Stanford Research Institut riet ebenfalls ab, aber Firmenchef William Hewlett setzte sich darüber hinweg. Er wollte unbedingt so ein kleines Ding, das Logarithmus, Exponentiation und trigonometrische Funktionen berechnen kann und das in seine Hemdtasche passt. Bis dahin war man entweder auf größere Computer angewiesen, auf ungenaue Rechenschieber oder auf Rechentafeln. Letztere gab es hierzulande etwa in Gestalt von Meyers Rechenduden (1964), erstellt auf IBM 650 und 704, mit beispielsweise fünf Nachkommastellen bei den trigonometrischen Funktionen. Das sollte HPs Taschenrechner besser können. In der Tat war er dann sogar genauer als die meisten Großrechner jener Zeit.

HP hatte zu dem Zeitpunkt schon seit einigen Jahren einen wissenschaftlichen Rechner namens HP-9100A auf dem Markt, den die Ingenieure Tim Osborne und Dave Cochran in Schreibmaschinengröße mit diskreten Bauelementen aufgebaut hatten. Mit Hilfe der neuen integrierten MOS/LSI-Technik sollten sie den 9100A in Windeseile auf ein Zehntel der Größe reduzieren, die Geschwindigkeit verzehnfachen und alles zu einem Zehntel der Kosten.

Das von dem kleinen Team um Osborne und Cochran konzipierte Gerät könnte nach HPs optimistischen Erwartungen allenfalls 50.000 mal verkauft werden, aber es kam anders: Schon unmittelbar nach der Ankündigung bestellte allein General Electric 20.000 Exemplare. In den drei Jahre der Produktion wurden es dann 350.000 Stück, und der Nachfolger HP-45 hat vieles von ihm geerbt. Dabei half ab 1973 übrigens ein genialer Ingenieur namens Steve Wozniak, der später als Apple-Entwickler und -Gründer berühmt wurde. Die Erfolgsstory des HP-35 ähnelt dabei ein wenig dem etwa 10 Jahre später vorgestellten IBM PC, der ebenfalls schnell konstruiert wurde und der die Verkaufserwartungen um ein Vielfaches übertraf.

Und noch etwas nahm er den PCs vorweg: die Bugs. Einige falsche Berechnungen (die "Big Bugs") bemerkte HP ganz früh in der Produktion, so dass davon nur wenige verkauft wurden. Der sogenannte 2.02-Bug fiel aber erst nach 25.000 bis 30.000 verkauften Exemplaren auf. Der HP-35 berechnete exp(ln(2.02)) nicht zu 2.02, sondern zu 2.00. Ausführliche Informationen zu diesem Bug finden sich auf der Website von Jaques Laporte. Wer noch so einen fehlerhaften HP-35 sein Eigen nennt, kann sich glücklich schätzen (etwa wie mit Fehldrucken bei Briefmarken). Man findet immer wieder solche Angebote auf Ebay.

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HPs Marketing riet, den Bug einfach zu verschweigen. Doch das war nichts für William Hewlett: Umgehend bot er allen Käufern einen Umtausch an – wovon aber nur ein Bruchteil der Kunden Gebrauch machte. Daran hätte sich Intel rund 22 Jahre später ein Vorbild nehmen sollen, als das Unternehmen den berüchtigten Divisions-Bug des Pentium-Prozessors zunächst verschwieg und dann verniedlichte, bis Intels Chef Andy Grove um Verzeihung bat und eine große "lebenslange" Umtauschaktion in Gang setzte – die aber auch relativ selten genutzt wurde.

1972 musste man für den Taschenrechner HP-35 schon tief in die Tasche greifen: Mit 395 US-Dollar war er nicht gerade ein Schnäppchen. In Deutschland kam er relativ zügig noch 1972 auf den Markt: für rund 2000 DM. Das war damals etwa das monatliche Grundgehalt (brutto) eines Studienrats (A13, Gehaltsstufe 10 von 14). Auf heute übertragen wären das immerhin rund 5500 Euro (Stufe 6 von 8). Dennoch tat das dem Absatz auch hierzulande keinen Abbruch.

Sein Name 35 rührt wohl einfach von den 35 Tasten her, die der Rechner bietet. Darunter befindet sich insbesondere die 35te, die ganz prominent unten rechts im Ziffernblock liegt: π. Man sollte dann schon auf den ersten Blick sehen, dass es sich um einen wissenschaftlichen Rechner handelt.

HP-35 Taschenrechner (3 Bilder)

(Bild: HP)

Zu seinen trigonometrischen Funktionen zählen sin, cos, tan, jeweils auch mit arc, aber keine Hyperbelfunktionen. Wurzelziehen, ln, exp und log gehören dazu, aber keine 10^x-Taste. Dafür bot er x^y. Zur Berechnung von 10^x musste man die Basis 10 explizit eintippen, jedoch erst den Exponenten, dann die Basis. Die 10 kann man speichern, denn der HP-35 besitzt einen Zwischenspeicher.

Klammern kennt er allerdings gar nicht, braucht er auch nicht, denn seine Eingabemethode war die "umgekehrte polnische Notation UPN oder englisch RPN". Sie heißt so zu Ehren des polnischen Mathematikers Jan Łukasiewicz, der diese Notation in den 20er Jahren begründet hat. Statt etwa "(3+2)*6" einzutippen, gibt man "3↑2+6*" (↑ steht für enter). Das spart nicht nur einen Tastendruck, sondern vereinfacht den Rechenvorgang, da der Rechner ansonsten bei komplizierteren Ausdrücken mitunter viel zwischenspeichern muss, bis die Klammern aufgelöst sind. Heute ist das kein Thema mehr, es gibt aber nicht wenige, die immer noch auf UPN schwören.

Wer einmal selbst mit einem HP-35 samt seiner heutzutage recht ungewohnten UPN -Eingabe experimentieren möchte, kann das in einem Funktionssimulator in Javascript tun.

Der Rechner besteht aus fünf MOS/LSI-Chips: Drei ROMs zu je 256 × 10 Bit (MK6022, 23 & 24), eine Kontroll- und Timing-Einheit (MK6021) und eine Arithmetik/Register-Einheit (MK6020). Hinzu gesellt sich auf einer eigenen Platine die Anzeigeeinheit für das LED-Display. Die Technik für die (roten) LEDs und die Treiberchips hatte HP Ende der 60er Jahre zur Produktionsreife gebracht. Die MOS/LSI-Chips, gefertigt in 10-µ-Techologie, kamen hingegen von Mostek. Später verwendete HP Chips in kleinerer Bauform von AMI (nein, nicht vom späteren PC-BIOS-Hersteller, sondern von American Microsystems).

Die Arithmetik-Einheit arbeitete mit nur einem Bit, was für einfache Taschenrechner völlig ausreichend war, insbesondere, wenn sie wie beim HP-35 mit 200 KHz oder schneller betrieben wurden. Solche 1-Bit-Recheneinheiten waren in Taschenrechnern noch danach lange Zeit üblich, der MK6020 hatte eine lange Überlebenszeit, wurde auch in den Nachfolgerechnern HP45 und HP-65 eingesetzt. Mutige konnten daher sogar die größeren HP45-ROMs mit besseren Routinen in den HP-35 einlöten, wie es der HP-Tester Fred K. Beckhusen beschreibt – er kam aber wohl auch leichter an die ROMs heran.

Die Instruktionen in den ROMs benötigen 10 Bits, so dass in den drei ROMs des HP-35 768 Befehle abgespeichert werden konnten. Die HP-45-ROMs speicherten schon 2048 Befehle; dieser Rechner hatte allerdings auch ein paar Funktionen mehr.

Der MK6020 bot auch Platz für vier 56-Bit-Register. Das Datenformat des HP-35 besteht aus Gleitkommawörtern, ein jedes mit vierzehn 4-Bit-Stellen; die Wortlänge beträgt also insgesamt 56 Bit. Die Mantisse (in BCD: Binary Coded Decimal) besitzt 10 Stellen, der Exponent zwei, die restlichen beiden sind für Vorzeichen von Mantisse und Exponent verantwortlich und bieten zudem Platz für Overflow- und Carry-Bits sowie für zwei "Guard Bits". Rein binär wäre man wohl mit Wörtern von 46 Bit Breite ausgekommen, aber so konnte man bei der Ein/Ausgabe etwas Rechnerei sparen.

35 Jahre nach der Vorstellung des HP-35, also im Jahr 2007, überraschte HP mit einer Neuauflage namens HP-35s. Das ist bis jetzt HPs aktueller, nicht grafischer wissenschaftlicher Taschenrechner. Er hat 26 Register und eine Unmenge an Funktionen, auch mit komplexen Zahlen, über drei- bis vierfach belegte Tasten. Und statt 1-Bit-ALU wirbelt hier, integriert in einem Sunplus-Chip, ein bewährter Oldtimer aus den 70er Jahren, ein 6502 (in Gestalt des nur leicht veränderten 8502). Die Taschenrechner-Konkurrenz setzt ja ebenfalls häufig noch auf Designs aus jener Zeit. Texas Instruments hält immer noch dem Z80 die Stange, etwa im TI-84Plus.

(tiw)