Geht die Welt eher unter als der Kapitalismus?

Die Grenzen des Wachstums werden spürbar. Dennoch fordert Olaf Scholz ein "klares Bekenntnis zum Wachstum" ein. Gibt es keinen Einspruch dagegen?

"Klare Bekenntnisse" von möglichen Koalitionspartnern zu fordern, das war 2021 Olaf Scholz’ Wahlkampftaktik, um die Linkspartei auszubooten: ein Bekenntnis zur Nato, aber auch zur Marktwirtschaft und zum Wachstum. Wozu man sich da "klar bekennen" soll, ist nicht weniger, als dass die Wirtschaft Jahr für Jahr um einige Prozent wachsen soll: eine exponentielle Progression.

Wie schnell das ins Unermessliche geht, lernt jeder im Matheunterricht. Wie soll das gut gehen, angesichts der mit der Wirtschaftstätigkeit verbundenen Treibhausgas-Emissionen und sonstigen Zerstörungen von Lebensgrundlagen?

Hat Olaf Scholz in der Schule nicht aufgepasst? So könnte man fragen, aber offenbar steht er damit nicht allein. Sonst hätten auch die Koalitionspartner einschließlich der Grünen in der Schule alle nicht aufgepasst, denn Wirtschaftswachstum ist im Koalitionsvertrag als vorrangiges Ziel festgeschrieben.

Überrascht hat das freilich niemand, denn man kannte es auch bisher nicht anders, als dass Wachstum als das A und O aller wirtschaftspolitischen Ziele gilt. Einerseits hat das Tradition, andererseits war schon immer klar, dass das angesichts endlicher Ressourcen nicht endlos weitergehen kann.

Nur: bisher wurden zwar von der Wissenschaft die Grenzen längst deutlich aufgezeigt, aber man war noch nicht am harten Anschlag angekommen – oder konnte es bisher verdrängen. Das ist inzwischen anders – aber dennoch wird weiter am Wachstum als politischem Ziel festgehalten.

Wirtschaftswachstum, so die verbreitete Auffassung, ist erfreulich, bedeutet es doch, dass mehr nützliche Dinge hergestellt werden. Freilich wird die Erwartung, das Wachstum würde das Leben der Mehrzahl der Leute verbessern, von den Politikern selbst regelmäßig dementiert: "überzogene" Ansprüche, insbesondere Lohnforderungen oder Sozialausgaben würden das Wachstum gefährden und müssen daher abgelehnt werden. Auf Deutsch: die arbeitende Bevölkerung hat für das Wachstum da zu sein, nicht umgekehrt.

Bedürfnisse sind ihrer stofflichen Natur nach endlich. Es gibt zwar eine Vielzahl verschiedener Bedürfnisse, aber jedes ist bestimmter, qualitativer Natur und kennt eine Sättigung. Neue Bedürfnisse zu erfinden und zu wecken, ist zwar der Wunschtraum manches Anlage suchenden Kapitals, stößt aber an Grenzen, nicht nur was den Geldbeutel der großen Mehrheit betrifft, sondern auch dessen, was sich bei gegebenem historischem Stand der Lebensumwelt in der verfügbaren Zeit überhaupt genießen lässt.

All der fragwürdige Schnickschnack, mit dem Gebrauchsgüter ausgestattet werden, um sie von der Konkurrenz abzuheben, legt ein Zeugnis von den Grenzen ab, an die die kapitalistische Güterproduktion stößt.

Man wird vielleicht einwenden, dass die vielfach präsentierten Luxusgüter einen gegenteiligen Eindruck allgemeiner Maßlosigkeit erwecken. Diese Maßlosigkeit ist jedoch keinen stofflichen Bedürfnissen - materieller oder kultureller Art - geschuldet, sondern ist durch die Geldform bedingt, die in unserer Gesellschaft jeglicher Reichtum annimmt.

Die Geldform abstrahiert von jeder qualitativen Bestimmtheit des Reichtums, es bleibt die reine Quantität. Als Kapital eingesetzt, wohnt dem Geld dementsprechend ein grenzenloser Drang zur Selbstvermehrung inne, aber auch den Konsumbedürfnissen verleiht die Geldform eine Tendenz zur Maßlosigkeit: Es geht nicht mehr nur um die Befriedigung stofflich bestimmter Bedürfnisse, sondern um die Demonstration der gesellschaftlichen Stellung: Luxusgüter werden von ihren Besitzern zur Schau gestellt, um zu zeigen, über welch große Geldmengen sie verfügen.

Um das Wohlergehen der Bevölkerung geht es beim Wachstum nicht

Das erinnert an Trophäen in Jagd und Krieg: Die im Kapitalismus vorherrschende Konkurrenz um Geld stellt einen Kampf aller gegen alle dar, und dementsprechend strebt jeder, sofern er sich mit diesem Kampf identifiziert, nach Trophäen, die seine Erfolge sichtbar machen. Es geht darum, damit anzugeben, dass man sich mehr leisten kann als andere; der eigentliche Zweck ist also nicht so sehr der sachliche Nutzen, sondern der Vergleich mit den anderen und ist deshalb mit keiner quantitativen Grenze zu befriedigen.

Wenn der Nachbar nachzieht, muss man selbst auch wieder eins drauflegen, eine endlose Spirale. So kommt es, dass die Größe manches Autos jedes durch praktischen Nutzen begründbare Maß überschreitet. Das ist jedoch, wie zuvor erwähnt, der in der Geldform des Reichtums in unserer Gesellschaft angelegten Maßlosigkeit geschuldet und widerspricht nicht der natürlichen Begrenztheit der Bedürfnisse.

Hierzu noch eine Anmerkung: Wenn als Ursache der ökologischen Misere die mangelnde Bereitschaft zu einem nachhaltigen Lebensstil ausgemacht wird, so wird dem Einwand, dass der Geldbeutel der meisten Leute da gar nicht so viel Spielraum lässt, oft mit dem Hinweis auf SUVs begegnet, die vor Discountern parken, während deren Besitzer sich dort mit Billigfleisch eindecken.

Mir ist bisher nicht aufgefallen, dass vor den Discountern überdurchschnittlich viele SUVs zu sehen wären, aber eines kann ich mir gut vorstellen: nämlich, dass manche Leute so viel Geld dafür ausgeben, mit einem SUV zu protzen, dass sie dann bei den Lebensmitteln sparen müssen.

Um das Wohlergehen der Bevölkerung geht es beim Wachstum nicht. Um was dann? Offenbar um etwas sehr Prinzipielles:

Wachstum ist nicht alles, aber ohne Wachstum ist alles nichts.

Angela Merkel, Rede auf dem Parteitag der CDU 2003

Moment mal: "ohne Wachstum" heißt, dass das Wirtschaftsvolumen auf dem Stand bleibt, auf dem es bereits ist. Wieso soll das nichts sein?

Wir haben eine rhetorische Figur vor uns, die nichts erklären will, sondern nur abrufen, was schon in den Köpfen drin ist. Was Merkel da voraussetzt, ist der Glaube an Segen und Notwendigkeit des Wirtschaftswachstums, der seine Unbedingtheit daraus bezieht, dass es bei ihm um nicht weniger geht als um die materiellen Grundlagen der staatlichen Macht im Kapitalismus. Ausgeführt wurde das in einem früheren Beitrag in Telepolis. Hier möchte ich zur Ergänzung Erhard Eppler zitieren, der als 85-jähriger Politikveteran zurückblickte:

Wo Wachstum zum übergeordneten, allgemein anerkannten Ziel der Politik wird, entstehen Abhängigkeiten. Denn das Wachstum ‚machen‘ ja nicht die Politiker, sondern die Unternehmen. Sie bei Laune zu halten, oder auch anzulocken, etwa durch niedrigere Steuern, wird notwendiger Bestandteil einer ‚Wachstumspolitik‘. So kam es zum ruinösen Wettbewerb der Staaten, auch der europäischen, um die niedrigsten Unternehmenssteuern, der mehr zur Staatsverschuldung beigetragen hat, als die meisten Ökonomen zugeben wollen. Der Staat musste ‚sparen‘, was praktisch hieß, dass er Aufgaben vernachlässigen oder privatisieren musste.

Eppler 2011, S. 178

Man kann die Frage stellen, ob es denn erst durch die Wachstumsideologie zum "ruinösen Wettbewerb der Staaten" gekommen ist, oder ob nicht umgekehrt dieser den Politikern aufdrängt, das Wachstum zum "allgemein anerkannten Ziel der Politik" zu machen. Das vorausgeschickt, liefert uns das Zitat jedoch eine Illustration zu den Zwängen, die im Kapitalismus mit dem Wachstum verbunden sind.

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