Zahlen, bitte! – 14 Reiter, sie alle zu finden: Die deutsche Volkskartei

Mit einer Volkszählung wird die Bevölkerungsentwicklung statistisch erfasst. Dass sie hierzulande misstrauisch beäugt wird, hat traurige historische Gründe.

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Lesezeit: 8 Min.
Von
  • Detlef Borchers
Inhaltsverzeichnis

In Deutschland findet dieses Jahr eine moderne Volkszählung statt, Zensus 2022 genannt. Sie besteht aus zweieinhalb Teilen: einer registergestützten Befragung durch Erhebungsbeauftragte an der Haustür, die durch eine ausführlichere Online-Befragung ergänzt werden kann und einer brieflichen Befragung aller Wohnungseigentümer. Doch wenn das deutsche Volk befragt wird, erinnert sich das deutsche Volk. Etwa an 1983 und Gerichtsentscheidungen zur Volkszählung, die die "informationelle Selbstbestimmung" in die deutsche Rechtsprechung einführten. Oder an die Volkszählung von 1939, die einigen Darstellungen nach die Identifikation und Deportation von Juden befeuerte.

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Vorab zur Klarstellung: der Zensus 2022 fragt nicht nach Religionszugehörigkeit und Impfstatus, wie auf Social Media immer wieder behauptet wird. Den Statistikern ist die angebliche "Umvolkung" egal. Sie verweisen auf das Statistikgeheimnis und das "Rückspielverbot": Die Daten, die beim Zensus erfasst werden, dürfen nicht direkt von anderen Behörden benutzt werden.

Die Europäische Union lässt seit 2011 im Abstand von 10 Jahren Zensus-Volkszählungen durchführen. Der Stichtag 16. Mai 2021 wurde aufgrund der Corona-Pandemie auf den 15. Mai 2022 verschoben. Die Daten werden für Planungen sozialer, umweltpolitischer sowie regionaler Art erhoben und sind aus guten Gründen mit einer engen Zweckbindung versehen. Beispielsweise dürfen sie nicht an Behörden wie die Polizei, Meldeämter oder das Finanzamt weitergegeben werden.

Das gilt für die direkte Befragung an der Haustür und etwas indirekter für die Befragung der Wohnungseigentümer: Dort stehen am Ende Ergebnisse auf Gemeindeebene zur Verfügung, an denen Kommunen erkennen können, wie gut ihre Register gepflegt sind. Insofern gilt auch heute das Informationsschreiben, das die Volkszählungsbeauftragten ab dem 17. Mai 1939 zum Nachlesen für Zweifler vorlegten: "Über die bei der Zählung über die Persönlichkeit des Einzelnen gewonnenen Nachrichten ist Amtsgeheimnis zu wahren; sie dürfen nur zu statistischen Arbeiten, nicht zu anderen Zwecken benutzt werden."

Wie sehr diese Vertraulichkeit bei weiteren Fragen ihnen am Herzen lag, demonstrierte ein "Anlagebogen", den die Zähler jüdischen Familien überreichten und der nach der Ausfüllung in einem verschlossenen blauen Umschlag zum lokalen Statistikamt geschickt werden sollte. Denn die Fragen waren privater Natur. Die Befragten sollten 10 zusätzliche Fragen beantworten. In Spalte 5-8 wurde nach den Großeltern gefragt, wie in dieser Abbildung der Ergänzungskarte zu sehen ist. Die Fragen nach den zwei Großmüttern und Großvätern waren drapiert mit Fragen zur höheren Schulausbildung, für die sich niemand interessierte. Die "Ergänzungskarten" von 1939 sollten bei der Bestimmung helfen, ob jemand "Volljude", "Geltungsjude", "halb- oder vierteljüdisch verseucht" sei. Das waren Fragen, die nicht für die Statistik interessant waren, für die sich aber das Reichssippenamt interessierte, das für die Ausstellung des Ariernachweises zuständig war und die Heirat von "Halb- und Vierteljuden" verbieten konnte. Das Statistikgeheimnis interessierte dort niemanden.

Im Netz-Projekt Mapping The Lives sind etwa 410.000 Opfer von Deportation durch den Nationalsozialismus verzeichnet, beruhend auf den Ergänzungskarten zur Volkszählung von 1939. Die Opfer erhalten Namen und Wohnort und wirken auf einmal ganz konkret und nah, insbesondere wenn sie in der einstigen Nachbarschaft gelebt haben.

Mit welcher Gründlichkeit vorgegangen wurde, hat der Verein "Tracing the Past" mit dem Projekt Mapping the Lives dokumentiert, für das 410.000 Ergänzungskarteikarten digitalisiert wurden. Bis heute ist nicht erwiesen, ob die Ergänzungskartei mit ihren Fragen dazu beigetragen hat, dass diese privat erfolgte Selbstanzeige den Abtransport und die Vernichtung jüdischen Lebens in Lagern wie Auschwitz befördert hat. Dies hatten Götz Aly und Karl Heinz Roth im Jahre 1984 in ihrem Rotbuch über Die restlose Erfassung behauptet.

Noch härter und dabei auf die Beteiligung von IBM und der deutschen Firma Dehomag eingehend urteilte Edwin Black in seinem Buch über "IBM und der Holocaust" über seinen ehemaligen Arbeitgeber: Black arbeitete zuvor für die von IBM finanzierte OS/2-Professional. Für Black war es erwiesen, dass IBM beziehungsweise Dehomag eine schwere Mitschuld am Holocaust trugen, da im Lohnauftrag die nötigen speziellen Lochkarten in werkseigenen Papierfabriken gedruckt und mit der Tabelliermaschine D11 ausgewertet wurden.

Black bezog sich in seiner Argumentation nicht nur auf Deutschland. In den Niederlanden mit einer hervorragend funktionierenden Hollerith-Infrastruktur wurden 73 Prozent der Juden ermordet, in Frankreich wegen der Erfassung auf Papier und der Befragung der okkupierten Bevölkerung hingegen 24 Prozent. Unbestritten ist, dass die führenden Köpfe der Dehomag glühende Nationalsozialisten waren, allen voran der Dehomag-Gründer, Aufsichtsrat Willy Heidinger und der Dehomag-Geschäftsführer Hans Rottke. Rottke sprach von der "heiligen Aufgabe der großen deutschen Volkszählung" und versprach "den deutschen Charakter unseres Unternehmens durch Ausschließung irgendwelchen deutschfeindlichen Einflusses für die Zukunft sicherzustellen".

Er reagierte damit auf die Tatsache, dass der IBM-Chef Thomas Watson einen von Adolf Hitler verliehenen Orden nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges zurückschickte. Heidinger verglich die Rolle der Dehomag mit der eines Arztes, der den Körper eines Menschen begutachtet. "Wir [Dehomag] sind dem Arzt sehr ähnlich, indem wir den deutschen Kulturkörper Zelle für Zelle sezieren. Wir berichten über jedes einzelne Merkmal auf einer kleinen Karte. Dies sind keine toten Karten, im Gegenteil, sie beweisen später, dass sie zum Leben erweckt werden, wenn die Karten nach bestimmten Merkmalen mit einer Geschwindigkeit von 25.000 pro Stunde sortiert werden. Diese Merkmale sind wie die Organe unseres Kulturkörpers gruppiert und werden mithilfe unserer Tabelliermaschine berechnet und bestimmt. Er imaginierte Adolf Hitler als Arzt, der den deutschen Volkskörper rein hält und "kranke Umstände" beseitigt.

Dehomag (Deutsche Hollerith-Maschinen Gesellschaft mbH) D11 Maschine. Mit einer Maschine dieser Art konnten Daten über Lochkarten im großen Stil erfasst werden.

(Bild: CC BY-SA 4.0, Dr. Bernd Gross)

Die große Volkszählung mitsamt den Ergänzungskarten ist nicht die einzige Anstrengung der Nationalsozialisten gewesen. Darauf machte jüngst Stefan Boberg aufmerksam. Er legte in Großbritannien eine Dissertation (PDF-Datei) vor, die nachweist, dass die Errichtung der deutschen Volkskartei ebenfalls eine wichtige Rolle neben der Ergänzungskartei spielte: "Ich will nachweisen, dass die Kollation mit der Volkskartei der entscheidende Schritt bei der Identifizierung und Lokalisierung der jüdischen Deportierten war. Die Erschaffung eines gesonderten Index – eine zentrale Judenkartei – war weder notwendig noch geplant."

Die Befragung zu dieser Volkskartei begann kurz nach der Volkszählung im Jahre 1939, lief bis Ende 1941 und fragte eine Vielzahl von Daten ab, die die Statistiker des Reichsamtes überhaupt nicht interessierten, aber für den anstehenden Krieg wichtig waren: Wer kann Motorrad- oder Autofahren, wer ist eine Medizinalperson? Die Erhebungsbeauftragten (die überwiegend weiblich waren) hatten eine Zusatzaufgabe: Sie sollten "J" für "Jude" oder "Z" für "Zigeuner" auf der Karte eintragen, wenn sie den Eindruck hatten, dass kein Volksdeutscher geantwortet hatte. In Zweifelsfällen wurde "J" mit Bleistift notierten Fragezeichen eingetragen, damit die Polizeibehörden nachfassen konnten. Zusätzlich wurde in der Volkskartei die Nummer der Kennkarte notiert, die alle Juden mit sich führen mussten. Außerdem war der obere Rand der Volkskarteikarte in 14 Felder aufgeteilt, auf die Reiter gesetzt wurden. Ein roter Reiter auf Feld 9 stand zum Beispiel für einen Führerscheinbesitzer. Juden wurden in Feld 14 mit einem schwarzen Reiter gekennzeichnet.

Die Debatte um die verschiedenen Karteien, die die Nationalsozialisten anlegten, ist damit sicher nicht zu Ende. Sie wurde 1984 geführt, als das Buch von Götz Aly und Karl Heinz Roth veröffentlicht wurde, sie wurde 2001 geführt, als Edwin Black sein Buch über IBM und den Holocaust veröffentlichte, sie wurde 2017 geführt, als die letzte große Volkszählung 30 Jahre zurücklag. Edwin Black gebührt immerhin der Verdienst, dass IBM Deutschland eine Stellungnahme zu seiner Recherche veröffentlichte. Die Daten der Volkszählung von 1939 landeten ja auf Dehomag-Lochkarten und wurden von Dehomag verarbeitet.

In der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" schrieb darum der ehemalige IBM-Geschäftsführer und EU-Vizepräsident Manfred Wahl nach Erscheinen des Buches von Black am 28. Januar 2001 über die "Unschuld" der Maschinen: "Lochkartenmaschinen (und heutige Computer) verarbeiten nur das, was der Anwender in sie eingibt (input) und wofür er sie programmiert. Die Lochkarte war nur ein 'Sekundär-Datenträger', der in maschinell lesbarer Form das in sich aufnahm (durch Einlochung), was in einem Urbeleg festgehalten war. Das konnten Lohnzettel sein, Zahlungs- oder Buchungsbelege, Materialannahmescheine, aber eben auch Erhebungsbögen einer Volkszählung. Der Anwender, nicht der Hersteller der Maschine oder Lochkarte legte dann fest, in welche Spalte und Zelle welcher Gruppenzugriff und welches Einzelmerkmal abzulochen ist." Die armen Maschinen – sie konnten nicht anders.

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(mawi)