Verletzte Radfahrerin in Klinik gestorben – laut Notärztin nicht wegen Klimaprotest

Die "Letzte Generation" will weitermachen. Solange nicht mindestens zwei simple Forderungen erfüllt werden. Foto: Letzte Generation

Die 44-jährige Berlinerin starb laut Vermerk nicht durch Stau, den Aktivisten verursachten. Die Gruppe "Letzte Generation" verlangt nach schweren Vorwürfen eine Richtigstellung. Zudem lädt sie die Bundesregierung zum Gespräch ein.

Eine gerade gestorbene Frau aus Berlin, eine von bereits mehr als 2000 Verkehrstoten des Jahres 2022 in Deutschland, wurde in den letzten Tagen politisch und medial eifrig instrumentalisiert. Einige konnten es kaum erwarten, "das erste Todesopfer" der Klimaproteste der Gruppe "Aufstand der letzten Generation" zu vermelden – wie etwa der stellvertretende FDP-Chef Alexander Graf Lambsdorff am Donnerstag auf Twitter.

Inzwischen hat sich herausgestellt, dass die Rettung der am Montag schwer verletzten Berliner Radfahrerin, die am Donnerstagabend im Krankenhaus starb, wohl doch nicht durch eine Aktion der Gruppe verzögert worden war. Am Donnerstag hatte die Polizei bereits den Hirntod der Frau gemeldet, am Freitag teilten Polizei und Staatsanwaltschaft gemeinsam mit, die 44-Jährige sei am Vorabend in der Klinik gestorben.

Kilometer entfernt von der Unfallstelle waren am Montag auf der Stadtautobahn A100 zwei Personen auf eine Schilderbrücke geklettert und hatten sich dort festgeklebt. Das vorhersehbare Eingreifen der Polizei hatte zwar einen Stau verursacht, aber offenbar keinen Einfluss auf die Überlebenschancen der schwerverletzten Frau, die an Ort und Stelle zeitnah von einer Notärztin versorgt wurde.

Ein Spezialfahrzeug der Feuerwehr, das im Stau feststeckte, wurde laut einem Bericht der Süddeutschen Zeitung nach Aussage der Notärztin gar nicht benötigt, um das Unfallopfer zu befreien.

"Der Klimaprotest hatte keinerlei Einfluss"

Die Radfahrerin war von einem Betonmischer überrollt und mit einem Bein eingeklemmt worden – zunächst sollte ein Rüstwagen der Feuerwehr anrücken, um das Fahrzeug anzuheben. Die Notärztin entschied aber an Ort und Stelle, dass der Betonmischer mit eigener Motorkraft vorsichtig bewegt werden könne. Die Süddeutsche Zeitung zitierte am Freitag aus einem Vermerk der Berliner Feuerwehr:

Zur Frage der technischen Rettung hat die Notärztin klar geäußert, dass sie sich auch bei der Verfügbarkeit von anderen technischen Möglichkeiten durch Rüstwagen oder Kran sofort für diese Methode entschieden hätte.


Aus dem Vermerk zum Einsatz 277 am 31. Oktober, zuerst zitiert von der Süddeutschen Zeitung

Diesen Vermerk hatte die Feuerwehr laut dem Bericht schon am Dienstagnachmittag an die Behörde der Berliner Innensenatorin Iris Spranger (SPD) geschickt. Letztere äußerte sich aber trotz massiver medialer Vorverurteilung der Klima-Aktivsten zunächst nicht öffentlich dazu.

So kam es, dass am Donnerstag auch Bundesinnenministerin Nancy Faeser öffentlich die Beteiligten des Klimaprotests beschuldigte: "Wer Rettungswege versperrt, setzt Menschenleben aufs Spiel. Das haben wir in dieser Woche in Berlin auf furchtbare Weise gesehen", twitterte die SPD-Politikerin. Die Polizei habe ihre "vollste Unterstützung für ein hartes Durchgreifen".

Ähnlich äußerte sich der Vizekanzler und Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) der nominell auch für das Klima zuständig ist.

"Nun wird klar, was am Montag wirklich geschah: Der Klimaprotest hatte keinerlei Einfluss auf die Versorgung des Unfallopfers", erklärte die "Letzte Generation" am Freitag in einem Offenen Brief an die Bundesregierung und verlangte eine Richtigstellung. Das Schreiben enthielt allerdings auch eine Einladung:

Die Letzte Generation war und ist immer gesprächsoffen und lädt die Bundesregierung – Scholz, Lindner, Habeck – sowie insbesondere Bundesverkehrsminister Volker Wissing zum Gespräch am Donnerstag, 10. November 2022 um 10.00 Uhr in Berlin ein.


Aus dem Offenen Brief der "Letzten Generation"

Verhandeln will die Gruppe über "erste Sicherheitsmaßnahmen in der Katastrophe" – darunter ein Tempolimit von 100 Stundenkilometern auf der Autobahn sowie ein Neun-Euro-Monatsticket für den öffentlichen Nahverkehr. Im Gegenzug wird die Beendigung der Proteste angeboten.

Ein öffentliches Gespräch mit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) in den Räumen der Friedrich-Ebert-Stiftung hatte eine kleine Kerngruppe der Aktiven bereits vor einem Jahr mit einem Hungerstreik durchgesetzt. Zugeständnisse machte der Kanzler dabei allerdings nicht.

"Verschobene Debatte"

Die deutsche Sektion der Klimabewegung Fridays for Future betonte am Freitag zu den aktuellen Vorgängen, dass "Klimagerechtigkeitsproteste immer umfassende Sicherheitskonzepte zur Grundlage" hätten. "Wir stellen uns der Verantwortung, die wir durch die Aktionen unweigerlich haben", heißt es in einem Pressestatement.

Wenn Politiker:innen in Folge des tragischen Vorfalls in Berlin voreilige Beschuldigungen machen, dann geht es aber nicht darum, mehr Sicherheit zu schaffen, sondern wichtige Proteste zu delegitimieren und die Debatte zu verschieben.

Das ist gefährlich und zynisch: Das Anliegen des Protestes wird durch die Protestform nicht weniger wichtig, und durch die verschobene Debatte wird von eigenen Fehlentscheidungen abgelenkt. Plötzlich sind die Gefährdung durch Scholz’ Entscheidungen und die klimapolitische Verantwortungslosigkeit der Ampel Nebenschauplätze.

Was gerade passiert ist keine ehrliche Debatte über Aktivismusformen, sondern Stimmungsmache gegen Aktivismus. In der Öffentlichkeit stehen nicht die Diskussionen über ernsthafte Ansprüche an sicheren Klimaprotest, stattdessen werden Verbotsforderungen in den Raum geworfen.


Fridays for Future

Die "Letzte Generation" hatte mehrfach darauf verwiesen, dass Rettungsfahrzeuge von den Aktiven selbst immer durchgelassen würden. Was sich ihrer Kontrolle entzieht, ist allerdings das Verhalten der genervten, teils zornigen Autofahrer sowie deren Fähigkeit und Bereitschaft, Rettungsgassen zu bilden.