"Jetzt hilft nur noch die Weisheit des westfälischen Friedens"

Widerspricht der moralischen Ächtung des Zweifels: Antje Vollmer. Bild: Markus Nowak

Antje Vollmer über die Notwendigkeit von internationaler Kooperation, über hybride politische Thinktanks und die Bedeutung des Zweifels an der veröffentlichten Mehrheitsmeinung. (Teil 2 und Schluss)

Antje Vollmer ist Pfarrerin und Pädagogin. Sie ist zudem als Publizistin tätig und wurde als Bundespolitikerin bekannt. 1983 gehörte sie der ersten Grünen-Bundestagsfraktion an und war von 1994 bis 2005 Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages.

Im ersten Teil dieses Gesprächs ging sie darauf ein, wie aus ihrer Sicht der "Krieg in den Köpfen" der einstigen Partei der Friedensbewegung begonnen hatte.

Frau Vollmer, im ersten Teil dieses Gesprächs haben Sie politische Stiftungen und Thinktanks kritisiert, weil sie „eine ziemlich einheitliche Agenda“ verbreiteten. Das betrifft auch ehemalige grüne Mitstreiter von Ihnen, konkret Ralf Fücks und Marieluise Beck. Die beiden haben 2017 einen Thinktank mit dem Namen Zentrum Liberale Moderne gegründet. In den Jahren 2018 bis 2021 sind nach Auskunft der Bundesregierung rund 4,5 Millionen Euro an diese Organisation geflossen, die auf die öffentliche Meinung einwirkt. Wie bewerten sie das

Antje Vollmer: Diese sogenannte NGO ist ein besonders eklatantes Beispiel eines hybriden politischen Thinktanks. Zwei ehemalige Spitzenpolitiker nutzen sämtliche Netzwerke der Institutionen, in denen sie lange tätig waren, und gründen dann mit Staatsgeld einen antirussischen Thinktank, den sie "Non Government Organisation" nennen und der durch keine echte Praxis im Land ausgewiesen ist.

Es gibt viele engagierte Städtepartnerschaften, die würden sich freuen, wenn sie auch nur punktuell Projektmittel vom Staat erhielten. Aber dieser Thinktank hat von Beginn an höchste politische Unterstützung genossen.

Warum ausgerechnet das Zentrum Liberale Moderne, was macht diese Organisation so besonders?

Antje Vollmer: Ich vermute, es sollte damals die zentrale Denkfabrik für eine schwarz-grüne Regierungsoption sein. Das würde dann aber auch bedeuten, dass das Postulat der Unabhängigkeit von Beginn an nicht stimmt. Es stimmt nicht die Regierungsferne, es stimmt nicht die Basisverankerung. Das Zentrum Liberale Moderne ist stattdessen ein Instrument eines ideologischen Lobbyismus.

Im Vergleich dazu muss man den Parlamentarierinnen und Parlamentariern zugutehalten, dass sie für ihre Positionen jederzeit öffentlich Rechenschaft ablegen und sich alle vier Jahre erneut einer Wahl stellen müssen.

Bei diesen Thinktanks aber sitzen die prominenten Vertreter teilweise über Jahrzehnte auf ihren Posten, wirken mit in Netzwerken. Das dann im Einzelfall für eine unabhängige wissenschaftliche Expertise zu halten, das finde ich ziemlich naiv.

Was also tun?

Antje Vollmer: Wir sollten generell vorsichtig sein in der Einschätzung dessen, was uns medial als Mehrheitsmeinung präsentiert wird. Das waren schon richtige Fragen, die Harald Welzer und Richard David Precht in der letzten Zeit gestellt haben. Manchmal wird etwas als Mehrheitsmeinung ausgegeben ausgerechnet von denen, die gezielt an der Etablierung solcher Mehrheiten arbeiten und von ihnen profitieren.

"Getragen vom Gefühl unanfechtbarer Überlegenheit"

Das bedeutet aber auch, dass man sich heute selbst eine hohe Dissidentenqualität aneignen muss, die Fähigkeit zu zweifeln, sogar an eigenen Gewissheiten. Manchmal muss man ziemlich einsam in einem überwiegend monokulturellen Meinungsumfeld bestehen. Dabei ist der Grundton westlicher Debatten gegenüber den neu aufkommenden Problemen in der Welt meist getragen vom Gefühl unanfechtbarer Überlegenheit, an der es nicht den geringsten Zweifel geben dürfe. Aber genau dieser Zweifel ist notwendig.

Vor allem muss man hellhörig werden gegenüber den Stimmen, die bei uns sehr leise geworden sind.

Was bedeuten diese Empfehlungen konkret für die Haltung gegenüber der globalen Krise, die mit dem Krieg in der Ukraine an Schärfe gewonnen, aber nicht mit ihm begonnen hat?

Antje Vollmer: Das bedeutet, dass wir uns etwa fragen müssen, warum Länder wie Indien oder Indonesien diese große Polarisierung zwischen China und dem Westen nicht mitzumachen bereit sind. Oder dass wir uns für die Erfahrungen von Südafrika interessieren sollten, von wo aus man uns rät: "Setzt euch an den Verhandlungstisch und misstraut auch euren eigenen Gewaltphantasien und Hassbildern."

Stattdessen haben wir inzwischen acht EU-Sanktionspakete gegen Russland. Die Wirkung der Sanktionen kann man nach jüngsten Antworten auf parlamentarische Anfragen aber gar nicht verlässlich einschätzen.

Antje Vollmer: Wir sollten uns schon ernsthaft und grundsätzlich die Frage stellen, ob die Politik der Sanktionen auch nur den geringsten Erfolg auf der gegnerischen Seite hatte. Ich meine das nicht nur in Bezug auf Putin, sondern auch mit Blick auf die Geschichte der Sanktionen gegen den Iran, gegen Kuba und andere Staaten.

Solche Maßnahmen haben immer dazu geführt, dass die betroffene Bevölkerung verelendet ist und unter einen ganz großen ökonomischen Druck gerät, während in den Machtetagen die Hardliner das Oberwasser bekamen. Wenn dagegen die Sanktionen auch nur wenig gelockert wurden, bekamen die Reformer in diesen Ländern ein bisschen Luft zum Atmen.

Auch bei den Völkern stieg das Vertrauen in eine Verbesserung ihrer Lage. Interessant ist übrigens, dass es zur Zeit des Kalten Krieges keine Wirtschaftssanktionen gegen die Sowjetunion gab - nur einen Olympia-Boykott.

Das Elend bei der aktuellen westlichen Strategie ist, dass niemand mehr auf die Wirkung von Reformen baut, die natürlich Zeit b rauchen. Der Westen ist in seiner eigenen Eskalationsspirale gefangen und setzt offen oder verdeckt auf einen Regime-Change, letztlich eine revolutionäre Lösung. Aber revolutionäre Konzepte setzen immer auf Gewalt. Sie spielen mit vielen Unbekannten und mit dem Risiko des Chaos.

Die Erde in ihrem bedrohten Zustand braucht aber Reformen, braucht Kooperation über Gräben hinweg, braucht einen Abbau von Feindbildern. Diese Erde braucht eine Einbindung in eine gemeinsame Aufgabe, selbst mit denjenigen, mit denen wir so viele Differenzen haben.

Wenn es stimmt, dass der Westen gegenüber der ökologischen Frage genauso viele Fehler begangen hat wie die sozialistischen Regime – dann besteht die Chance, aus den beiderseitigen Irrtümern eine neue Form zukünftiger Kooperation zu entwickeln - diesmal auf Augenhöhe.

Sie sehen für die Lösung der ökologischen Krise die Notwendigkeit einer neuen globalen Kooperation. Das klingt in Bezug auf unseren Kontinent sehr nach dem, was Michail Gorbatschow in seiner Prager Rede im April 1987 mit seinem Bild eines gemeinsamen europäischen Hauses beschrieben hat. Hat dieses Haus aber noch die Chance, bezogen zu werden?

Antje Vollmer: Die Bedingung der damaligen Hoffnungen war die Gewaltfreiheit bei den tiefgreifenden Veränderungen. Das europäische Haus sollte nicht auf den blutdurchtränkten Schlachtfeldern eines Krieges, sondern auf diplomatischer Vernunft und der Idee einer gemeinsamen Sicherheitsarchitektur für alle europäischen Volker entstehen.

In diesen unschuldigen Zustand von 1990 kommen wir nicht mehr zurück. Zu viel ist passiert: Die Demütigungen, die Feindbilder, die gegenseitigen Gewalteskalationen, schließlich der Krieg, der ja nicht einmal der Erste war.

"Erst einmal müssen die Waffen schweigen"

Jetzt hilft nur noch die Weisheit des westfälischen Friedens. Die aber heißt: Wir fangen an, unsere gegenseitigen Sicherheitsbedürfnisse ernst zu nehmen. Wir akzeptieren unsere Unterschiede. Wir regeln mit Verhandlungen, was wir zu regeln vermögen. Den Rest muss eine höhere Macht oder die zukünftige Generation bewältigen. Erst einmal müssen die Waffen schweigen.

Und was bedeutet das im Umkehrschluss? Welche Perspektiven haben wir, wenn jetzt alle Kontakte abgebrochen werden und dass das erklärte Ziel ist, jeglichen Handel und jeglichen Einkauf von Ressourcen aus Russland einzustellen?

Antje Vollmer: Das Ergebnis ist nicht schwer vorauszusehen. Wo nicht mehr ge- und verhandelt wird, wo auch keine kulturellen Verbindungen mehr bestehen, da wird erst mental und dann später auch real der Krieg auf Dauer gestellt. Das ist es, was auch uns einer realen militärischen Auseinandersetzung oder sogar einem dritten Weltkrieg immer näher bringt.

Das geht mit einer weiteren großen Gefahr in Europa einher: Es ist in vielen Ländern ein für mich unerträglicher neuer Nationalismus im Schwange.

Bei Ländern wie Polen, der Ukraine oder den baltischen Staaten kann ich sehr gut verstehen, dass sie schlimme historische Erfahrungen gemacht haben. Aber nationaler Chauvinismus - egal ob er russisch, polnisch, ukrainisch oder deutsch ist - jede nationale Überheblichkeit und Heroisierung ist keine Rettung, schon gar nicht für Europa.

Der Nationalismus war ganz im Gegenteil immer der Totengräber der europäischen Einheit und die Ursache von vielen Kriegen, von allen Vertreibungen, auch von allen Vernichtungsphantasien. Es ist mir unheimlich, wenn plötzlich Nationalismen wieder als historisch unschuldige Identitätsmerkmale von Völkern betrachtet werden.

Welche Friedensperspektiven sehen sie in diesen Kriegszeiten, in diesem aktuellen Krieg und vielleicht angesichts möglicherweise kommender Kriege? Welche Wege und Akteure können zu einem europäischen und einem globalen Frieden führen?

Antje Vollmer: Ich glaube, dass Deutschland seine Chancen einer vermittelnden Position im Augenblick weitgehend verspielt hat. Ich habe aber eine große Hoffnung, dass aus diesem Desaster doch so etwas wie eine neue Blockfreien-Bewegung entsteht.

Eine solche Allianz könnte im internationalen Rahmen mit starken Ländern aufwarten, die sagen: Wir sind mehr interessiert an Kooperation. Kooperation in der zentralen Frage der Klimakatastrophe, des Nord-Süd-Konflikts, der Migration oder bei der Bekämpfung von Armut. Sie könnten dann auch in der UNO wieder an Boden gewinnen und ihr wieder zu der Bedeutung verhelfen, die sie nach 1945 einmal hatte.

Die Verurteilung Russlands in der UN-Vollversammlung war richtig und notwendig, weil der Krieg gegen die Ukraine die Grundideen der UNO verletzt. Aber die Idee einer Weltinnenpolitik, eines Weltethos, einer friedlichen Kooperation der Völker – die braucht ganz dringend eine neue Blockfreien-Bewegung.

Ob ich das noch erlebe, weiß ich nicht. Aber diese Bewegung wird sicher eines Tages aus der wachsenden Konfrontation des Westens mit China entstehen.