ALS-Patienten: Altes Viruserbe erhellt Krankheitsentstehung​

Die Überproduktion eines Gens, das vor langer Zeit ins Humanerbgut eingelagert wurde, lässt Amyotrophe Lateralsklerose voranschreiten.​

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(Bild: Erstellt mit Midjourney von heise online)

Lesezeit: 5 Min.
Von
  • Veronika Szentpetery-Kessler
Inhaltsverzeichnis

Die genetische Hinterlassenschaft eines uralten Virus könnte die Entstehung von Amyotropher Lateralsklerose (ALS) weiter erhellen helfen. PEG10 ist eins von ungezählten, einstmals viralen Genen im menschlichen Erbgut, das sich in verschiedenen Geweben neue Aufgaben erschlossen hat. Die wichtigste ist, bei der Ausbildung des Mutterkuchens (Plazenta) zu helfen. Nun aber haben Forschende um Alexandra Whiteley von der University of Colorado in Boulder (UC Boulder) im Nervengewebe von ALS-Patienten erhöhte Mengen des PEG10-Proteins gefunden.

Normalerweise sorgt ein Gen namens Ubiquilin 2 für die richtige PEG10-Menge. Bei ALS-Patienten ist das Regulator-Gen allerdings oft mutiert und bremst die PEG10-Produktion nicht mehr. Die Ubiquilin-2-Mutation war bereits bekannt, unklar war aber, wie es zur Ausprägung von ALS führt, schreiben die Forschenden im Fachjournal eLife.

Deshalb untersuchen sie in Zellkulturen und Tierversuchen, welche Proteine sich anhäufen, wenn diese Mutation vorliegt. PEG10 landete ganz oben auf der Liste. Als sie daraufhin das Rückenmarksgewebe von verstorbenen ALS-Patienten untersuchten, gehörte PEG10 auch hier zu den fünf häufigsten Proteinen.

Wie Whiteleys Gruppe in weiteren Experimenten herausfand, stört der PEG10-Überschuss das Ablesen verschiedener Gene und behindert als Folge die Bildung des langen, Axon genannten Nervenfortsatzes der Nervenzellen. Diese aber leiten normalerweise die elektrischen Steuersignale vom Gehirn zu den Muskeln weiter.

ALS, auch Lou-Gehrig-Syndrom genannt, ist eine tödliche neurodegenerative Krankheit. Sie zerstört nach und nach motorische Nervenzellen im Gehirn und im Rückenmark, sodass sie die Steuerbefehle des Gehirns nicht mehr an die Muskeln weiterleiten können. Als Folge kommt es zu Muskellähmungen. Patienten werden ihrer Fähigkeiten beraubt, sich zu bewegen, zu schlucken, zu sprechen und zu atmen.

ALS kann zudem auch mit einer im Stirn- und Schläfenlappen des Gehirns entstehenden Demenz einhergehen, die zu Persönlichkeits- und Verhaltensänderungen führt (frontotemporale Demenz). Die erbliche ALS-Form macht etwa zehn Prozent aller Fälle aus. Zu 90 Prozent tritt die Erkrankung dagegen „sporadisch“, also unvermittelt, auf. Das PEG10-Gen wird in beiden Gruppen zu stark abgelesen.

In Deutschland leiden laut dem Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen e. V. zufolge bis zu 9.000 Menschen an ALS, jährlich kommen etwa 2.500 Neuerkrankungen hinzu. Einer der bekanntesten ALS-Patienten war der Physiker und Kosmologe Stephen Hawking.

Einige Medikamente können das Fortschreiten der Krankheit verlangsamen. Eine Heilung gibt es allerdings nicht. Deshalb hoffen Whiteley und Kollegen, dass „ein besseres Verständnis der Biologie von PEG10 im Zusammenhang mit ALS und anderen Erkrankungen, bei denen PEG10 erhöht ist, neue Wege für die Entwicklung von Therapien eröffnen“ kann, schreiben sie in ihrer Publikation.

„Die Tatsache, dass PEG10 wahrscheinlich zu dieser Krankheit beiträgt, bedeutet, dass wir vielleicht ein neues Ziel für die Behandlung von ALS haben“, sagte Whiteley der Universitätszeitung der UC Boulder. „Für eine schreckliche Krankheit, für die es keine wirksamen Therapeutika gibt, die die Lebenserwartung um mehr als ein paar Monate verlängern, könnte das sehr wichtig sein.“

Mit finanzieller Unterstützung der ALS Association, der US-Gesundheitsakademien National Institutes of Health sowie von Venture Partners versucht ihre Gruppe nun, die beteiligten molekularen Wege aufzuklären und einen Ansatz zu finden, das abtrünnige Protein zu hemmen. Whiteley hat ein Patent für die Nutzung von PEG10 als Biomarker und Diagnosehilfe für ALS angemeldet.

Das PEG10-Gen kodierte einmal einen Teil einer Virushülle. Schätzungen zufolge machen solche Gene aus Retroviren bis zu 50 Prozent unserer DNA aus. Retroviren besitzen RNA als Erbgut, schreiben sie nach dem Befallen von Zellen in DNA um, damit die Zelle sie abliest und neue Viruspartikel baut. So agiert zum Beispiel das HI-Virus. Aber viele frühere, oft altertümliche Retroviren haben ihre Reißzähne sozusagen verloren, als Teile ihres Erbguts in unseres eingegliedert wurden.

Diese Retrotransposons genannten DNA-Stücke, die ins Erbgut wandern können, werden weitervererbt, ergeben aber keine Viruspartikel mehr. Sie wurden, wie es im Biologenjargon heißt, domestiziert. Ganz so, wie wilde Tiere nach ihrer Domestizierung nicht mehr beißen, sondern ihre Halter sogar unterstützen, dienen uns Retrotransposons in verschiedenen Funktionen. In manchen Fällen ermöglichen sie sogar – wie PEG10 mit seiner placentabildenden Eigenschaft – einen evolutionären Entwicklungssprung.

Im falschen Gewebe kann ein Überschuss aber eben auch Krankheiten auslösen. PEG10 ist da kein Unbekannter: Ein Zuviel davon wurde auch mit der neurologischen Erkrankung Angelman-Syndrom in Verbindung gebracht, wo es die Gehirnentwicklung in der Embryonalphase stört. Die Überproduktion kann auch verschiedene Krebsarten wie Leberkarzinome und chronisch-lymphatische Leukämie auslösen. (vsz)