Wissenschaftler aus aller Welt warnen EU vor Chatkontrolle

Hunderte Wissenschaftler warnen vor der Chatkontrolle. Sie würde wenig bringen, berge aber enormes Risiko - auch zulasten von Kindern.

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Frau im grünen Gewand schreibt eine Nachricht mit dem Smartphone

(Bild: fizkes/Shutterstock.com)

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Die von der EU-Kommission geplante Chatkontrolle würde mehr schaden, als sie nützen könnte. Davor warnt eine vielfältige Reihe hunderter Wissenschaftler aus über 30 Ländern in einem offenen Brief an die Abgeordneten des EU-Parlaments sowie die EU-Mitgliedsstaaten. Mit einem ähnlichen offenen Brief stößt eine Gruppe österreichischer Organisationen und hochrangiger Wissenschaftler in das gleiche Horn.

Sie alle fordern, das Projekt der Chatkontrolle fallen zu lassen – sowohl was das geplante Verbot wirksamer Verschlüsselung angeht, als auch den alternativen oder ergänzenden Vorschlag der Verwanzung aller Endgeräte für sogenanntes Client Side Scanning (CSS). "Wir warnen eindringlich davor, dieses Vorhaben oder ähnliche Maßnahmen weiterzuverfolgen, weil sie mit gegenwärtiger oder vorhersehbarer Technik nicht erfolgreich sein können, während die Schädigungsgefahr erheblich ist", heben die internationalen Forscher in ihrem CSA Academia Open Letter hervor (CSA steht für Child Sexual Abuse, zu Deutsch Kindesmissbrauch).

"Diese Gesetzgebung würde die durchdachte und scharfsinnige Arbeit, die europäische Forscher für IT-Sicherheit und Datenschutz geleistet haben, untergraben. Dazu gehören auch Beiträge zur Entwicklung weltweiter Verschlüsselungsstandards", schreiben die internationalen Forscher. "Diese Unterminierung würde das Umfeld für Sicherheits- und Datenschutzarbeit in Europa schwächen, was unsere Möglichkeiten zur Errichtung einer sicheren digitalen Gesellschaft reduzieren würde."

Schlimmer noch: Europäische Chatkontrolle wäre globales Vorbild für Internetfilter, Zugangsbeschränkungen und Entzug der wenigen Werkzeuge, die Menschen haben, um ihr Recht auf Privatleben im digitalen Raum zu schützen. Kurz gesagt: fein für Autokraten, schlecht für Demokratien.

Spyware zur Überwachung aller Endgeräte kann verlässlich nur nach bereits bekannten Inhalten suchen, darf diese Inhalte aber nicht selbst enthalten, denn sonst wäre sie ein gefundenes Fressen für Täter. Also kommen Hashwerte zum Einsatz. Diese Hashwerte dürfen für den Benutzer nicht einsehbar sein, sonst ist das Manipulations- oder Umgehungsrisiko zu hoch. Das wiederum bedeutet, dass jedes Endgerät mit nicht-transparenter Regierungssoftware verwanzt werden müsste. Diese Spyware müsste zudem laufend aktualisiert werden.

Aus dem Mangel an Transparenz folgt, dass die Regierungen mit der einmal installierten Software auch nach ganz anderen Dingen suchen könnten – und wahrscheinlich bald würden. Beispielsweise nach Inhalten mit Terrorismusbezug, anderen Straftaten, oder kritischen Äußerungen über die Regierung selbst. Niemand könnte überprüfen, wofür die Hashwerte stehen und was die Software nach Hause meldet.

Die EU-Kommission möchte sogar noch einen Schritt weiter gehen und Künstliche Intelligenz (KI) nach noch nicht bekannten Darstellungen von Kindesmissbrauch suchen lassen. Selbst Textnachrichten und Telefonate sollen laufend überwacht und ausgewertet werden, um mögliche Anbahnung von Kontakten zwischen Minderjährigen und Erwachsenen mit Missbrauchsabsicht aufzuspüren. Das, so die Experten, sei kaum möglich. Anders lautende Behauptungen von Anbietern einschlägiger Überwachungstechnik seien nie unabhängig bestätigt worden, und eine Evaluierung des britischen Innenministeriums zeige, dass die Umsetzung weder mit Datenschutz noch mit Menschenrecht vereinbar sei.

Hochgerechnet auf die Masse an Kommunikation in der EU würde jede Technik hunderte Millionen falscher Anzeigen täglich produzieren. Höchst intime, aber völlig legale Inhalte würden laufend an Behörden weitergeleitet, die aber nicht ausreichend Mitarbeiter haben, um so viele Anzeigen zu sichten. Akzeptable Fehlerraten seien nur bei sehr fokussierter, zielgerichteter Überwachung bei konkreten Verdachtsfällen erzielbar – das ist aber gerade nicht das Vorhaben der EU-Kommission.

Speziell Kinder würden durch die Fehlalarme geschädigt. Europäische Strafverfolger würden derzeit meist mit Fingerspitzengefühl Fälle einvernehmlicher intimer Nachrichten zwischen Teenagern bearbeiten. Genau das könne Überwachungssoftware aber nicht, womit Unterhaltungen zwischen Kindern oder Teenagern laufend Anzeigen auslösen würden.

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Die wahren Täter hingegen würden auf andere Kommunikationsmethoden ausweichen. Die enormen erforderlichen Mittel für die Überwachung aller EU-Bürger sollten lieber in Vorbeugung gegen Kindesmissbrauch investiert werden, fordern die Wissenschaftler. Diese Arbeit müsse vorwiegend vor Ort geleistet werden; in sozialen Netzwerken sollte es einfacher werden, verdächtige Inhalte zu melden. Denn das führe in der Praxis eher zur Entdeckung neuen illegalen Materials als Treffer Künstlicher Intelligenzen.

Die Wissenschaftler laden Kollegen aus aller Welt ein, sich dem offenen Brief als Unterzeichner anzuschließen. Unterzeichner müssen ein Doktorat oder sonst nachgewiesene Forschungstätigkeit haben. Bis 3. Juli haben Wissenschaftler aus Australien, Belgien, Brasilien, Dänemark, Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Irland, Israel, Italien, Kanada, Liechtenstein, Luxemburg, den Niederlanden, Neuseeland, Norwegen, Österreich, Polen, Portugal, Schweden, der Schweiz, Singapur, Spanien, Südkorea, Taiwan, Tschechien, der Türkei, den Vereinigten Arabischen Emiraten sowie den Vereinigen-Staaten von Amerika unterzeichnet.

(ds)