Netz-Sozialisierung

Google schafft den Sprung in soziale Netzwerke, Facebook wiederum scheint mehr Traffic auf Portalseiten zu lenken als Google. War bislang alles darauf ausgerichtet, das Internet endlich überall verfügbar zu machen, so erfolgt nun der Übergang zur Sozialisierung aller Bereiche eines Echtzeit-Netzes.

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Lesezeit: 11 Min.
Von
  • Sascha Lobo
Inhaltsverzeichnis

Das Jahr 2010 kann bisher mit zwei Internetüberraschungen aufwarten. Die eine ist leicht auszumachen, es handelt sich um Google Buzz. Google, das unsere Wahrnehmung des Netzes bestimmt wie kein anderes, hat endlich den Sprung ins Soziale geschafft. Die Versuche vorher haben allesamt kaum Erfolg gehabt, weder bei der internationalen Presse noch bei den relevanten Multiplikatoren. Dabei hatte Google einiges ausprobiert, etwa den Kauf von Orkut, einem Social Network, das außerhalb Brasiliens mehr oder weniger irrelevant ist. Oder Google Friend Connect, das zu Recht kaum außerhalb des Google-Universums an Fahrt gewonnen hat. Blogger als Blogplattform funktioniert zwar gut, bietet aber kaum soziale Anknüpfungspunkte.

Mit Buzz aber hat es Google trotz einiger Anfangsschwierigkeiten geschafft, bei den richtigen Menschen weltweit auf Anhieb im sogenannten „Relevant Set“ zu landen, also in der Auswahl derjenigen Seiten, denen sie einen Teil ihrer Zeit widmen. Buzz ist ein Volltreffer bei vernetzten Nerds, natürlich mit den üblichen, durchaus intensiven Ablehnungserscheinungen – unter anderem wegen massiver Datenschutzprobleme, die Google anfangs völlig zu ignorieren schien – in dieser ohnehin äußerst heterogenen Gruppe. Aber man beschäftigt sich mit Buzz, anders als mit den vorgenannten Versuchen.

Die zweite Internetüberraschung ist eine, die kaum für Aufsehen gesorgt hat, obwohl sie zu den wegweisendsten Neuigkeiten gehört. In einer Randnotiz in einem Artikel des San Francisco Chronicle hat die Firma Compete Inc. ihre Traffic-Messungen für den Monat Dezember zu Protokoll gegeben. Danach hat Facebook fast doppelt so viel Traffic wie Google auf die großen Portale wie Yahoo oder MSN gelenkt. Bei anderen Seiten wie Youtube liegt Google zwar noch vorn – aber keinesfalls außerhalb jeder Reichweite.

Hinter diesen Daten stehen zwei parallele Entwicklungen, die das Internet in den nächsten Jahren prägen werden. Von einer Revolution zu sprechen, ist nur deshalb unangemessen, weil sie zum einen weder von heute auf morgen noch absolut verlaufen wird – und weil zum anderen das Wort Revolution der zweitabgenutzteste Begriff in der IT-Landschaft ist, gleich hinter „Lösung“. Diese beiden Entwicklungen sind die „Social-isierung“ weiter Bereiche des Internet und das Echtzeit-Netz.

Interessanterweise spielt bei beiden Facebook eine maßgebliche Rolle, das mit inzwischen fast 400 Millionen aktiven Nutzern in kaum noch begreifbare Sphären vorstößt: Seine Nutzer publizieren dreieinhalb Milliarden Links, Fotos, Geschichten, Kommentare, Filme – jede Woche. Die Publikation auf einem Social Network kann man dabei direkt als Empfehlung betrachten, als persönliche Empfehlung, sich mit dem geposteten Inhalt zu beschäftigen, was immer es ist. Dahinter steht für den einzelnen Nutzer (irgendwer muss die ganzen Inhalte ja auch betrachten) die Antwort auf die Frage: „Was passiert in meinem sozialen Umfeld?“

Diese sozialen Empfehlungen scheinen in den letzten Monaten gegenüber herkömmlichen Suchergebnissen enorm an Wichtigkeit gewonnen zu haben. Dave Yovanno vom Social-Media-Dienstleister Gigya aus Palo Alto drückt es so aus: „Die Menschen fangen an, seltener allein im Netz umherzustreifen, sondern das Netz nach den Empfehlungen und Aktivitäten ihrer Freunde zu durchpflügen.“ Es entsteht der Eindruck, als würde die technische Empfehlungsmaschine Google einen Teil seiner Traffic-Macht an die sozialen Empfehlungsmaschinen abgeben müssen – allen voran Facebook, in größerem Abstand Twitter. Deshalb wahrscheinlich auch der Vorstoß von Google ins Soziale, dazu noch mitten in die Echtzeit – denn Google Buzz könnte man durchaus als modernes Echtzeit-Forum betrachten, dessen Beiträge nicht thematisch, sondern nach Personen sortiert sind.

Um übrigens die Größenverhältnisse zwischen den scheinbaren Echtzeit-Konkurrenten Facebook und Twitter einigermaßen gut abschätzen zu können, kann man sich eine Pressemitteilung desjenigen Social Gaming-Unternehmens vor Augen führen, das der Welt die Facebook-Spiele Mafia Wars und Farmville beschert hat (und Facebook damit seinen wichtigsten Umsatzanteil): Ende 2009 gab Zynga die lapidare Meldung heraus, dass weltweit mehr Menschen Farmville spielen als twittern.

Allein schon deshalb ist Twitter auch nicht als Heilsbringer der Webzukunft oder des Onlinejournalismus zu verstehen, sondern als quirliger Vorbote des Echtzeit-Netzes. Denn die eben erläuterte, soziale Empfehlung – „Schau, was ich Interessantes gefunden habe“ – ist eng verwoben mit dem Echtzeit-Netz. Das hängt damit zusammen, dass soziale Empfehlungen ärgerlich schnell veralten. Am einfachsten lässt sich das an einem anderen großen Netzkonzern ablesen, nämlich eBay. Ein drei Wochen alter Link auf eine eBay-Auktion nützt dem Kunden im Zweifel exakt nichts. Dazu noch spricht man nicht umsonst von „Social Media“, es handelt sich trotz aller Unkenrufe um Medien, also um publikationsgetriebene Plattformen. Und dort spielt Aktualität eine ungeheuer große Rolle. Der Gipfel der Aktualität wiederum heißt natürlich: jetzt.

„Was passiert genau jetzt?“, das ist die Frage, die den Reiz des Echtzeit-Netzes erklärt und die in der Konsequenz weitreichende Folgen hat. An dieser Stelle wird auch die Überschneidung der beiden großen Entwicklungen klar, denn was genau jetzt im sozialen Umfeld passiert, hat einen mindestens ebenso großen Stellenwert wie das, was genau jetzt im Rest der Welt passiert.

Die Definition des Begriffs Echtzeit-Netz fällt auf den ersten Blick nicht unbedingt leicht und ist zudem auch noch im Fluss. Das erkennt man schon daran, dass auf Wikipedia kein eigener, deutschsprachiger Artikel über das Echtzeit-Netz zu finden ist (Stand: 16. Februar 2010). Auch der englischsprachige beschreibt das Real-Time Web alles andere als ausführlich – eine Definition könnte man festlegen wie folgt: Das Echtzeit-Netz umfasst Technologien, Plattformen und Dienste, die Informationen im Moment der Entstehung bündeln und (fast) ohne Zutun des Empfängers an diesen weiterleiten.

Die Macht und die Auswirkungen des Echtzeit-Netzes in Verbindung mit Social Media wird wiederum deutlich, wenn man auf die Empfehlungsstrukturen blickt und den Traffic, den sie verursachen. Ein über Twitter veröffentlichter Link erreicht innerhalb der ersten halben Stunde über 50 Prozent der Klickanzahl, die er nach mehreren Monaten erreichen wird (Quelle: Abschätzung aufgrund des öffentlich einsehbaren Linktrackers bit.ly, der mit Twitter zusammenarbeitet).

Der Strom der Nachrichten und Lese- beziehungsweise Linkempfehlungen in einem Facebook-Freundesnetzwerk schafft eine neue Aufmerksamkeit für Relevantes innerhalb des Netzes.

In der deutschsprachigen Twittersphäre folgen einem Link, veröffentlicht auf einem Account mit mehr als 30 000 Followern, im Schnitt 2000 bis 3000 Personen. Die genaue Zahl bestimmt sich durch eine Reihe anderer Faktoren wie Tageszeit, Wochentag, Inhalt des Links und Häufigkeit der Retweets, also der Wiederholung des Links durch andere Twitterer. Dabei entsteht in den ersten Sekunden der Veröffentlichung eines Links eine beachtliche Dynamik, wenn fast gleichzeitig ein paar hundert Personen klicken. Je nach Ziel kann das zum sofortigen Zusammenbruch des Servers führen; es sind mehrere Fälle dokumentiert, nach denen die Seite von 3sat nach einem Link auf eines ihrer Videos minutenlang nicht mehr erreichbar war. Und das, obwohl Twitter in Deutschland mit etwa 200 000 aktiven Nutzern (Quelle: webevangelisten.de) noch alles andere als groß daherkommt.

Die technische Infrastruktur der meisten Unternehmen und Institutionen ist noch nicht ansatzweise auf die Bedingungen des Echtzeit-Netzes ausgerichtet. Für einen Online-Händler kann das Funktionieren seines Shops unter der spontanen Last eines Social-Media-Ansturms überlebensentscheidend sein, erst recht, wenn die organisch verteilten Nutzerströme von Google im Vergleich kleiner werden und ein Link auf dem richtigen Social Network über den Ort entscheidet, wo etwa das nächste Netbook gekauft wird.

Aber die technischen Randbedingungen des Echtzeit-Netzes sind trotz ihrer buchstäblichen Wucht weniger spannend als die sozialen Auswirkungen, die es mit sich bringt. Ausschlaggebend ist hier die Nutzung des Real Time Web, vor allem am Beispiel von Twitter zu sehen. Eine Vielzahl von Artikeln in klassischen Medien haben sich mit Twitter beschäftigt und sind oft zum Schluss gekommen, dass fast nur irrelevante Beiträge dort erscheinen würden – etwa, dass man gerade Kaffee trinke, oder was genau man zu Mittag esse.

Das Interessante ist, dass diese Beiträge mit einer scheinbaren Nullaussage tatsächlich das Schmiermittel des Echtzeit-Netzes darstellen. Das kann das Versprechen, das schon in seinem Namen verankert ist – die Echtzeit –, nur dann einlösen, wenn ständig ein ausreichend großer Teil der Nutzerschaft online ist. Die berüchtigten Kommunikationswellen auf Twitter, wo über Erdbeben, Flugzeugabstürze und Wahlergebnisse wenige Minuten alte Informationen durchs Netz rollen, bedingen ausreichend viele miteinander vernetzte Teilnehmer, die auch genau jetzt online sind. Der Kaffeetweet ist der Grund, weshalb die Nutzer auf die Plattform gehen, sich zwanzig, dreißig Beiträge ansehen und vielleicht den entscheidenden darunter weiterempfehlen.

Die häufige Beschäftigung mit der Plattform anhand von eigentlich unwichtigen Kommunikaten schafft eine ständige Halbaufmerksamkeit, falls etwas tatsächlich Relevantes passiert. Und der Wunsch, diese ständigen, sozialen Statusmeldungen wie auf Facebook, Twitter oder einer Reihe neuer Netzwerke wie Foursquare und Gowalla abzuschicken, bindet die Nutzer ihre gesamte Wachzeit über ans Netz.

Die Mechanik des Echtzeit-Netzes kann durchaus auch eine unmittelbare Wirkung abseits des Internet haben, wie man eindrücklich auf der Webciety-Bühne der CeBIT 2009 [1] betrachten konnte. Dort war auf der Bühne eine Twitter-Wall aufgebaut, wie sie bei Veranstaltungen rund um das Internet inzwischen üblich zu sein scheint. Allerdings war dort auch ein großer Bühnenmonitor zu finden, auf dem die mit dem richtigen Stichwort versehenen Twitternachrichten für die Teilnehmer der Diskussions-Panels zu lesen waren. Der Effekt war – in manchen Fällen – erstaunlich. Das Publikum hatte einen direkten Rückkanal und nutzte ihn, um in die Diskussion einzugreifen. Von der Forderung, bestimmte Themenschwerpunkte zu legen, bis zur Bitte, Sachverhalte zu erklären – es entwickelte sich eine neue Qualität des Bühnengeschehens, nämlich ein Publikums-Feedback in Echtzeit, das zudem in Echtzeit prozessiert wurde.

Und genauso, wie das Echtzeit-Feedback auf der Bühne gewirkt hat, wird es auch das Netz verändern: über den Umweg des Anspruchs der Menschen an ihr Umfeld, ob auf der Bühne oder im Internet selbst (siehe dazu den folgenden Artikel „Jetzt. Sofort. Alles.“ von Peter Glaser). Denn die dem Echtzeit-Netz zugrunde liegende Beschleunigung wird von denjenigen, die sie mitmachen, schon bald als normal empfunden. Und damit als Maßstab zur Reaktionszeit, die man seinem Gegenüber, zum Beispiel einem Unternehmen, einräumt. Diese Beschleunigung, die das Echtzeit-Netz mit sich bringt, kettet uns auf diese Weise immer enger und in immer kürzerem Takt an das Internet insgesamt, verändert unsere Erwartungen an alle anderen Netzteilnehmer und sorgt dafür, dass wir Teil einer ständigen, digitalen Sphäre werden, die wie ein unsichtbares Netz über der Welt liegt.

[1] Der Autor, einer der bekanntesten Blogger in Deutschland und ehemaliger Werbetexter, berät die Deutsche Messe AG, unter anderem bei Webciety (jk)