Zurück zur Natur

Rohstoffe, die in Feld, Wald und Wiese wachsen, können es mühelos mit Hightech-Fasern aufnehmen. Als Schimmelschutz und Wärmeschild sind sie sogar besser geeignet.

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Von
  • Nike Heinen

Dieser Text ist der Print-Ausgabe 02/2010 von Technologie Review entnommen. Das Heft kann, genauso wie die aktuelle Ausgabe, hier online portokostenfrei bestellt werden.

Rohstoffe, die in Feld, Wald und Wiese wachsen, können es mühelos mit Hightech-Fasern aufnehmen. Als Schimmelschutz und Wärmeschild sind sie sogar besser geeignet.

Der Tag, an dem Hubert Fritz, Seniorchef des Allgäuer Bauunternehmens Baufritz, vor fast 20 Jahren daheim am Erkheimer Stammtisch mit dem Molkereileiter zusammensaß, sollte seine Firma einen bedeutenden Schritt voranbringen. Irgendwie kam die Rede auf Käsewasser, das weit mehr könne als nur Schweine zu mästen. "Wenn man Molke versprüht, wächst kein Pilz mehr, das ist absolut fungizid", sagte der Milchfachmann. Für Fritz war dies das letzte Puzzleteil, das ihm noch fehlte.

Holzwolle, Holzmehl, Hobelspäne – seit Jahren hatte er unter den Abfallprodukten seiner Zimmerei nach einem rundherum natürlichen Dämmstoff gesucht. Heute gehören molkegetränkte Hobelspäne zu den wichtigsten Patenten des Unternehmens. "Um die Späne brandfest zu machen, kommt außerdem noch ein bisschen Soda dazu", sagt Unternehmenssprecher Dietmar Spitz. "Bei uns können Sie ein brennendes Streichholz in einen Korb voll Sägespäne werfen, das glimmt kurz und geht dann aus."

Mit solchen Innovationen wandelte sich das alteingesessene Bauunternehmen in den frühen achtziger Jahren zu einem Pionier der Naturbaustoffbranche. "Damals starb die Frau unseres Chefs an Krebs", sagt Spitz. "Sie war überzeugt, dass die synthetischen Stoffe in ihrem Haus sie krank gemacht hatten. Ihr letzter Wunsch war es, dass ihr Mann nur noch Häuser ohne diese Schadstoffe baut."

Auch ohne solche persönlichen Motive entdecken immer mehr Bauherren den Vorteil von Naturstoffen: Sie sind umweltfreundlich in Herstellung und Recycling und bieten zudem oft bessere Eigenschaften als synthetische Materialien. Dementsprechend ist der Ökobau nicht mehr nur bei naturbegeisterten Individualisten beliebt, sondern auch bei den Bauherren von Fertighäusern oder mehrstöckigen Apartment-Gebäuden. Seit den ersten Geschäftsversuchen von Ökobaustoffherstellern ist die Branche langsam, aber stetig gewachsen. Holzhäuser etwa haben inzwischen unter den Neubauten in Deutschland einen Marktanteil von rund 15 Prozent.

Baufritz produziert zum Beispiel hochwertige Fertighäuser, die weitgehend auf Kunststoffe verzichten. Sogar unsichtbare Details wie Kabelkanäle aus PVC werden in Baufritz-Häusern durch Naturstoffe ersetzt – in diesem Fall durch ein Stützkorsett aus Korkgranulat, das mit Wasserglas verfestigt wurde. Die mit Molke und Soda behandelten Späne werden in die hölzernen Wandschalungen gefüllt und dort mit einem speziellen Verfahren verdichtet. Solche Dämmmaterialien aus Naturfasern isolieren ähnlich gut wie etwa Mineralwolle, haben aber zudem eine größere spezifische Wärmespeicherkapazität. Sie können also die Mittagshitze besser als andere Dämmstoffe speichern, um sie in der kühlen Nacht wieder abzugeben, und sorgen damit für eine gleichmäßigere Raumtemperatur.

Gegenüber erdölbasierten Produkten haben Naturfasern noch einen weiteren Vorteil: Sie können Feuchtigkeit aufnehmen und eine gewisse Zeit lang speichern. Wenn die Luft dann, zum Beispiel in der Heizperiode, wieder trockener wird, geben die Fasern das aufgenommene Wasser ab und verbessern so das Raumklima. "Das beugt effektiv der Schimmelbildung vor", sagt Eckhard Klopp, auf Naturbaustoffe spezialisierter Architekt bei der Fachagentur Nachwachsende Rohstoffe. "Es gibt keinen Kunststoff, der da mithalten kann – immer vorausgesetzt, man lüftet ausreichend." Fasernliefernde Pflanzen können Holz, Flachs, Hanf, Schilf oder Wiesengras sein. Das hochwertigste Dämmprodukt aber kommt von Tieren: Schafwolle. "Am Anfang haben ein paar Bauern bei uns in Franken alte Matratzen zwischen die Sparren ihrer Ställe geklemmt", erinnert sich Friedrich Baur, Chef der Baur Vliesstoffe GmbH in Dinkelsbühl. "So kam die Idee auf."

Baurs Unternehmen war 1992 das weltweit erste, das Wolle in Dämmplatten pressen konnte. Die Grundsubstanz der Platten besteht zwar allein aus gereinigten Wollfasern – aber einfach überschüssige Wolle aus einer Schäferei in den eigenen Dachstuhl zu stopfen, ist trotzdem keine gute Idee. Baur: "Dann kommen die Motten." Schafwollvliese für den Hausbau müssen mit synthetischen Mottenschutzmitteln imprägniert werden. Das war bislang der Wermutstropfen für ökologische Hardliner. "Dieses Jahr werden wir mit dem ersten natürlichen Mottenschutz auf den Markt kommen", sagt Baur. "Ein ungiftiges Mineral, das die Tiere nicht tötet, sondern ihnen nur das Fressen verleidet."

Schafwolle ist der teuerste Naturdämmstoff, aber auch der leistungsfähigste. Das Feuchtigkeitsmanagement der Keratinfasern ist so gut abgestimmt, dass Schimmelpilze keinen Nährboden finden. Außerdem sind Wollfasern Reinigungskünstler. Sie nehmen Schadstoffe aus der Luft auf und bauen sie ab: Ihre Proteine reagieren mit den unerwünschten Substanzen und integrieren die Schadstoffmoleküle in ihre Aminosäureketten. Um Altbauten der siebziger Jahre zu sanieren, die mit Formaldehyddämpfen oder PCB belastet sind, genügt es daher, ein drei Millimeter dickes Wollvlies auf die kontaminierten Flächen zu leimen, als eine Art Wolltapete.

Und die Ökomaterialien können noch mehr, als nur vorhandene Bausubstanz nachzubessern oder klassischen Einfamilienhäusern ein Umweltsiegel zu verleihen. Auf ihrer Basis lassen sich ganze Stadthäuser errichten. Mitten in der Berliner City, im Szeneviertel Prenzlauer Berg, stellt der Berliner Architekt Frank Müller gerade unter Beweis, dass Naturstoff-Konstruktionen auch im Fünfgeschosser-Format möglich sind: Drei solcher Ökoriesen zieht er auf dem Gelände eines alten Schlachthofs hoch, dieses Frühjahr sollen die 33 Eigentumswohnungen bezugsfertig sein.

Die Platten und Träger, aus denen Müller die Wände und Decken konstruiert hat, werden aus sogenanntem Kreuzlagenholz gefertigt. Es besteht aus Fichtenbrettern, die in einer Hitzekammer besonders schnell und stark getrocknet, dann kreuzweise geschichtet und verleimt wurden. Mit 40 bis 60 Zentimeter dicken Wänden und dreifachverglasten Fenstern erfüllen die Apartmenthäuser den Passivhaus-Standard. "Da reicht die Energie eines Toasters, um eine 100-Quadratmeter-Wohnung zu heizen", sagt Müller. In den Berliner Naturstoff-Stadthäusern sind noch etwa zehn Wohnungen frei, zwischen 1750 und 2150 Euro müssen Käufer pro Quadratmeter investieren. Nichts für Arme, aber auch nicht unerschwinglich.

Nicht allein dem Raumklima, auch dem globalen Klima tun Naturbaustoffe gut. Die Zementindustrie etwa ist der zweitgrößte Kohlendioxid-Emittent nach den Energieversorgern. Das US-Unternehmen Calstar will deswegen im kommenden Jahr "grüne" Ziegelsteine auf den Markt bringen. "Wir ersetzen den Zement und den Ton in diesen Ziegeln durch Flugasche aus der Kohleverbrennung", sagt Firmengründer Michael Kane. "Davon gibt es große Abfalllager in den USA. Das ist also ein echtes Recyclingprodukt." Schadstoffe, die bei der Kohleverbrennung entstanden seien, würden beim Herstellungsverfahren im Ziegel eingeschlossen, sagt Kane. Die Ascheziegel sollen nur ein Sechstel der ansonsten in der Ziegelherstellung nötigen Energie verbrauchen.

Dennoch können sie nach Ansicht von Baufritz-Sprecher Spitz mit Holz nicht mithalten. "Wenn man das Holz so nachhaltig wie wir verwendet, dann führt das sogar zu einer negativen CO2-Bilanz", sagt Spitz. "Weil die Baumstämme in unseren Häusern einige hundert Jahre überdauern, statt im Wald zu verrotten, werden unterm Strich Treibhausgase eingespart."

Dieses Argument ist allerdings etwas für Idealisten, denn nach der aktuellen Gesetzeslage zählt für die Energiebilanz eines Hauses nur der aktuelle Verbrauch durch die Heizung. Der Sprecher des Ökohaus-Herstellers hält das für falsch: "Wer sein Haus jetzt, staatlich gefördert, mit Kunststoffen dämmt, der wird zwar weniger heizen müssen", sagt Spitz. "Aber das CO2 wieder einzusparen, das bei der Herstellung dieser Dämmstoffe in die Atmosphäre geblasen wurde, dauert Jahrzehnte." (bsc)