Fresszellen gegen Nanotubes

Das neue Asbest – dieser Verdacht hängt den Kohlenstoff-Röhrenmolekülen seit einiger Zeit an. Nun zeigt sich, dass der Körper sie durch ein Enzym abbauen kann.

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Von
  • Niels Boeing

Für die einen sind sie das Wundermaterial der Nanotechnik: Kohlenstoffnanoröhren, auch Nanotubes genannt. Dank ihrer physikalischen Eigenschaften sind sie für so unterschiedliche Anwendungen wie Sensoren, Displays, Transistoren, Fasern oder rudimentäre Nanomaschinen zu gebrauchen.

Für andere freilich sind sie der nächste Alptraum nach Asbest. Denn verschiedene toxikologische Studien haben gezeigt, dass die länglichen Nanotubes unter bestimmten Umständen in Gewebe Entzündungen hervorrufen oder auch Zellen in Kulturen töten können.

Unter bestimmten Umständen heißt: Es kommt sowohl auf die Länge der Nanoröhren an als auch auf die Form, also ob sie ein- oder mehrwandig sind, in Bündeln oder einzeln vorliegen. Keine Studie kam zwar bisher zu dem Ergebnis, dass sie per se toxisch sind. Aber für unbefangene Beobachter ist doch der Asbestvergleich hängengeblieben.

Ein Paper in Nature Nanotechnology, das vor drei Tagen vorab online veröffentlicht worden ist, wartet nun mit einer bemerkenswerten Nachricht auf: Zumindest einwandige Nanoröhren können möglicherweise von Teilen des menschlichen Immunsystems unschädlich gemacht werden – was das Entzündungsrisiko senkt. Das ist das Ergebnis von toxikologischen Untersuchungen einer 21-köpfigen Forschergruppe an Instituten in Schweden, Irland und den USA.

Die Wissenschaftler setzten in einem Reagenzglas einwandige Nanotubes in einer wässrigen Umgebung einem chemischen Cocktail aus dem Enzym Myeloperoxidase (hMPO), Wasserstoffperoxid und Kochsalz (Natriumchlorid) aus. Nach 24 Stunden hatte der Cocktail die Röhrenmoleküle in kleinere, harmlosere Bestandteile zerlegt.

Entscheidend daran ist: Alle drei Stoffe kommen natürlicherweise in den so genannten Neutrophilen vor. Die machen mehr als die Hälfte der weißen Blutkörperchen im menschlichen Blut aus und gehören zu den Fresszellen, die eindringende Mikroben verspeisen. Bisher hatte man Nanotubes nur mit Hilfe von starken Säuren zersetzen können, allerdings gab es schon erste Hinweise auf Enzyme, die denselben Effekt haben könnten.

Die Forscher vermuten, dass in dem chemischen Cocktail zwei Radikale – Moleküle mit freien Elektronen – als Zwischenstoffe gebildet werden, die die maschendrahtartige Atomstruktur der Nanoröhren aufbrechen (interessanterweise behindert Taurin den Zersetzungsprozess - ein Grund mehr, kein Red Bull zu trinken).

In einer zweiten Versuchsanordnung gaben die Forscher Nanotubes direkt in eine Zellkultur aus Neutrophilen, einmal als "nackte" Röhrenmoleküle, einmal mit dem Antikörper Immunoglobulin G (IgG) versehen. Ergebnis hier: Die Fresszellen konnten innerhalb von zwölf Stunden 30 Prozent der unveränderten und 100 Prozent der IgG-Nanotubes zerlegen.

Wie verhält sich dieser Befund nun zu vorigen Studien? Die Forscher halten es für möglich, dass die hohen Dosen, die in Tierversuchen bislang verabreicht wurden, die Fähigkeit der Neutrophilen zum Zerlegen der umstrittenen Moleküle überwältigt haben. Bei geringeren Dosierungen sollte der biologische Abbau hingegen anspringen. Das würde auch, so die Forscher weiter, bedeuten, dass Nanotubes in der Medizin als Medikamentenfähren eingesetzt werden könnten - schließlich will niemand irrsinnige Mengen von ihnen spritzen.

Natürlich werden wir abwarten müssen, was weitere vergleichende Studien zutage fördern. Auch die beteiligten Forscher zeigen sich in ihrer abschließenden Bewertung erst einmal vorsichtig. Dass die wegen ihrer enormen Robustheit gefeierten Nanoröhren enzymatisch zerlegbar sind, hat mich auf jeden Fall überrascht.

Die Studie beweist zumindest, was die internationale Zusammenarbeit in der Nanotoxikologie leisten kann. Sie wurde mit Mitteln aus neun verschiedenen öffentlichen Institutionen gefördert. Die zuweilen hitzige Debatte über die Toxizität von Nanomaterialien hat also tatsächlich einiges in Bewegung gesetzt. Diejenigen, die zuviel Risikoforschung als innovationshemmend abgetan haben, sollten endlich still sein und den Nutzen einer gründlichen Nanotoxikologie anerkennen. Die Skeptiker hingegen sollten genauer hinschauen, bevor sie das nächste Mal "Nano = Asbest!" schreien.


Das Paper: Kagan, Valerian et al., "Carbon nanotubes degraded by neutrophil myeloperoxidase induce less pulmonary inflammation", Nature Nanotechnology, 4. April 2010 (Abstract; Interessierten schicke ich gerne eine Kopie zu). (nbo)