Sonntagsfahrer fuhren immerhin ein mal die Woche. Carsharer nicht

Carsharing und Peak Unfähigkeit

Verbrennungsmotorenhersteller denken vage an Peak Oil, das Ölfördermaximum. Carsharing-Firmen sollten mit Peak Unfähigkeit rechnen, der Zeitpunkt, an dem die Unfähigkeit maschinell wieder vermindert werden muss.

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Von
  • Clemens Gleich
Inhaltsverzeichnis

Bemerkenswertes Erlebnis heute: Ich steige in einen Carsharing-Aygo an einem größeren Stellplatz. Schon beim Anfahren ist klar: Okay, diese Kupplung ist sowas von durch, das muss JEDER SOFORT gemerkt haben. Doch im Fahrtenbuch steht nichts, nada. Auf der langen Liste der Fehler haben Stuttgarter jeden mit einem Rasterelektronenmikroskop findbaren Lackkratzer vermerkt, aber den fetten rosa Elephanten einer abgerauchten Kupplung hat niemand gemeldet? Wie kann das sein? Liegt es vielleicht an mir? Gas geben in jedem Gang: Die Kupplung rutscht immer durch, obwohl im Aygo ein Motor ist, dessen Drehmoment von jeder Küchenmaschine überboten wird. Nein, es liegt nicht an mir. Schockierend.

Was machen meine werten Mitmieter, die vorher den armen Aygo gefahren sind, wenn ein Reifen platt ist? Ist ihnen auf einer gummiwalkenden Felge herumeiern genauso unerfühlbar wie eine Kupplung, die an Stuttgarts steiler Hasenbergsteige komplett kapituliert? Haben sie faustdicke Hornhäute über Sitzfleisch, Handflächen und Großhirnrinde? Rätselhaft. Man stelle sich solche Menschen zuhause vor: "Reg dich nicht auf, Schatz, das merkt man halt einfach nicht, wenn das Kind sich mit der Heckenschere schneidet! Es hat schon gequengelt, aber warum wusste ich auch nicht! Blut? Es kann nicht jeder ein klugscheißerischer Mediziner sein! Blut kann doch ALLES bedeuten ..."

Extreme Sonntagsfahring

Die Antwort wurde nach Ende der weitgehend kraftschlussfreien Fahrt klar. Ein Opel Astra aus dem Sharer-Fuhrpark gab sie, indem er auf eine Art geparkt dastand, die nur eines bedeuten kann: Die Fähigkeit, ein Kraftfahrzeug zu führen, ist bei uns Carsharern mittlerweile besorgniserregend degeneriert. Das ist ja gut nachvollziehbar: Wir fahren selten, wir sind außer Übung. Früher galt jemand, der nur ein Mal die Woche Fahrpraxis aufs Fertigkeitskonto bucht, als verachtenswert: Haha, der Sonntagsfahrer! Aber jeder Sonntagsfahrer hat mehr Übung als ich, denn ich fahre nur alle paar Wochen überhaupt Auto. Wie gut werde ich wohl fahren? Meine Mitverkehrsteilnehmer tun mir leid.

Das Problem ist ein systemisches des Carsharings, und zwar eines, das irgendwann an eine Grenze kommen wird, an der es gelöst werden muss, weil alle Fuhrparkautos mit verbrannter Kupplung quer über drei Parkplätze stehen, die Reste unglückseliger Fahrräder noch im Kühlergrill. Eine neue Kupplung einbauen wird sich nicht lohnen, weil wir alle den linken Fuß während der Fahrt auf der Kupplung abstellen. Den Unterschied zwischen Automatik und Handschaltung haben wir genauso vergessen wie den zwischen links und rechts, Bus und Bahn, Fahrzeugführer und Passagier. Es wird diesen Punkt geben, an dem Politiker darüber diskutieren werden, ob sie Carsharing nicht der heiligen Sicherheitskuh wegen verbieten sollten. Wie, diese Firma leiht nachweislich Motorikbehinderten mit faustdicken Hornhäuten, aber ohne Fahrpraxis ein AUTO? Denkt denn keiner an die Kinder?!

Peak Ineptitude

Dieser Ereignishorizont der Unfähigkeit war von vornherein absehbar, und man kann davon ausgehen, dass jede Carsharing-Firma dieses Problem in etwa so auf dem Schirm hat, wie Hersteller von Hubkolben-Verbrennungsmotoren den Zeitpunkt von Peak Oil. War der schon? Kommt der noch? Auf jeden Fall nichts, was einen heute konkret anficht. Meistens entwickeln sich Dinge jedoch nicht linear, sondern exponentiell – wenn man eine komplex-chaotische Entwicklung überhaupt auf eine einzelne Kurve auftragen will. Entwicklungen beschleunigen sich selbst. Es hat einen Grund, dass wir Cars sharen: Wir benutzen so selten ein Auto, dass sich ein eigenes nicht lohnt. Das ist der externe Anschub. Doch der interne Beschleuniger folgt sogleich: Wir fahren immer seltener Auto, weil jeder Fahrt eine exakte Rechnung folgt, während man sich Fahrten in eigenen Fahrzeugen ausgezeichnet billig lügen kann. Ich tanke ja eh immer nur für zehn Euro.

Experten wie ich vermuten, dass autonome Autos eine Entwicklung sind, die sich in der letzten Zeit derart beschleunigt hat, dass wir sie mit einiger Wahrscheinlichkeit alle noch erleben. Ich persönlich hoffe für die Kinder und für meine Nerven, dass der Advent der Roboterautos vor dem Abgrund der Unfähigkeit kommt. Denn im Prinzip mag ich Carsharing. Es müsste nur der Nichtmalsonntagsfahrer aus der Gleichung entfernt werden.