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Die neue Ducati Multistrada 1200 Enduro

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Ducati Multistrada 1200 Enduro: Schon mutig, aus einem für den Asphaltbetrieb gedachten Motorrad eine Enduro zu machen. Oder was man halt bei einem 254 Kilo schweren, 160 PS starken Bike so unter Enduro versteht

Köln, 6. April 2016 – 266 Teile will Ducati an der Multistrada 1200 ausgetauscht oder zusätzlich montiert haben, um ihr die Bezeichnung „Enduro“ verleihen zu können – ohne Schrauben, Muttern oder ähnlichem Kleinkram. Es waren also durchaus umfassende Änderungen an der Multistrada, die sie zur Enduro machen sollen. Ob das Konzept einer so fetten Enduro sinnvoll ist, ist für den Hersteller nicht die Frage – ausschlaggebend ist wohl eher, wie gut sich derlei Kräder verkaufen.

Der unbedarfte Betrachter entdeckt auf Anhieb keine großen Unterschiede zur „normalen“ Multistrada 1200, zumindest solange die beiden Bikes nicht nebeneinander parken. Wer den Fachmann rauskehren will, kann die Enduro aber sofort an der Zweiarmschwinge identifizieren, an der Basis-Version führt eine Einarm-Schwinge das Hinterrad. Die Enduro hat nur einen Auspufftopf, statt zwei übereinander angeordneter, die seitlichen Kühlerverkleidungen sind großflächiger, bestehen aus Aluminium und verfügen über einen Luftdurchlass. Die Sitzbank ist – von der Seite betrachtet – fast halbkreisförmig, der Motorschutz wurde weiter nach oben gezogen, die Kunststoffseitenteile unter dem Sitz entfallen und der Tank wuchs um zehn Liter auf satte 30 Liter Volumen.

Im Federweg legte die Enduro um 30 auf 200 Millimeter vorne und hinten zu, außerdem weist das Vorderrad 19 Zoll Durchmesser auf. Wie es sich für ein Offroadkrad gehört, rollt die Multistrada 1200 Enduro auf Drahtspeichenfelgen und die Bodenfreiheit wuchs um immerhin 35 auf 205 Millimeter.

Stark und schwer

Ducati gibt mit vollem Tank 254 Kilogramm an, das sind 19 mehr als die Multistrada 1200 S. Der Motor wird damit keinerlei Mühe haben, denn er produziert 160 PS aus 1198 Kubikzentimetern Hubraum. Doch wie sinnvoll ist das bei einer Enduro? Jede 250er-Einzylinder-Enduro würde der Ducati im Gelände enteilen, einfach, weil sie weit über hundert Kilo weniger wiegt. Und dennoch wird sich die Multistrada 1200 Enduro gut verkaufen.

Woher wir diese Zuversicht nehmen? Ganz einfach: BMW macht es schon seit vielen Jahren vor. Die Bayern haben dem Gelände-Ableger ihrer Boxer-GS den Beinamen „Adventure“ [1] verliehen und sie verkaufte sich mit dem Riesentank stets glänzend. Natürlich sucht niemand auf einem über fünf Zentner schweren Bomber ernsthaftes Gelände auf, aber Stadtgeländemotorräder verkaufen sich halt einfach gut – ganz ähnlich, wie schon länger die automobilen Stadtgeländefahrzeuge [2].

Reifen mit sehr ordentliche Asphaltqualitäten

Die Marke aus Bologna hat zwar als Teaser auf ihrer Homepage Profis mit der Multistrada 1200 Enduro ins Gelände geschickt, wo sie das Motorrad eindrucksvoll über Stock und Stein und Wasserdurchfahrten scheuchen, ja, sogar über eine Motocross-Piste, aber das sollte man als normalsterblicher Motorradfahrer nicht versuchen. Hinzu kommt, dass für die Aufnahmen sehr grobstollige Pirelli Scorpion Rally aufgezogen wurden. Die speziell für Rallies entwickelten Pneus funktionieren im Gelände gut, aber auf Asphalt würde ein Abruf der 160 PS den Enduroreifen in einen Slick verwandeln. Abgesehen davon ist der Reifen auf Tempo 190 limitiert, doch die Multistrada 1200 Enduro ist mit 240 km/h Höchstgeschwindigkeit angegeben. Serienmäßig zieht Ducati deshalb auch den hauptsächlich straßenorientierten Pirelli Scorpion Trail 2 auf, der über sehr ordentliche Asphaltqualitäten verfügt, aber im Gelände mit äußerster Vorsicht genossen werden sollte.

Die Enduro basiert übrigens auf der Multistrada 1200 S, also die besser ausgestattete Variante, die über ein komplettes Elektronikpaket verfügt. Die Liste ist derart lang, dass sie den Rahmen hier sprengen würde, aber es ist alles vorhanden von der mehrstufigen Traktionssteuerung über Kurven-ABS, Berganfahrhilfe und Wheelie-Kontrolle bis zum semi-aktiven Fahrwerk. Dazu noch für die Spielernaturen ein individuell programmierbarer Riding-Mode und Bluetooth-Anbindung für das Handy. Auch das TFT-Display und die LED-Scheinwerfer unterstreichen den High-tech-Anspruch.

Für den Offroad-Einsatz wurde die Multistrada 1200 Enduro im Tank-Sitzbank-Bereich schmaler gestaltet, um den Fahrer ein lockeres Stehen zu ermöglichen. Die Fußrasten verfügen dementsprechend über abnehmbare und vibrationsabsorbierende Gummiauflagen, darunter kommen dann Metallzacken zum Vorschein, die den Cross-Stiefeln besseren Halt gewährleisten. Wer den Asphalt verlässt, sollte im reichhaltigen Software-Menü den „Offroad“-Modus anwählen. Der Bordcomputer kappt dann die Leistung auf 100 PS, die Traktionskontrolle greift erst sehr spät ein, ebenso wie das ABS.

Kraft im Überfluss

Alle Multistradas erhielten für 2016 ein neues Motor-Mapping. Der große V2 setzt nun bei niedrigen Drehzahlen mehr Drehmoment frei. Maximal sind es 136 Nm bei 7500/min, doch schon wesentlich früher häuft der Motor mit variabler Ventilsteuerung Berge von Drehmoment auf die Kurbelwelle. Die Enduro erhielt außerdem noch eine kürzere Endübersetzung, was das Drehmoment am Antriebsrad weiter steigert. Das erfordert im Gelände einen sehr behutsamen Umgang mit dem Gasgriff.

Doch auch am Fahrwerk haben die Ingenieure Hand angelegt. Nicht nur die Federwege wuchsen, sondern auch der Radstand um 65 auf 1594 Millimeter und der Nachlauf auf 110 Millimeter. Der Lenkkopfwinkel reduzierte sich auf 65 Grad. Die Änderungen sollen ein präziseres Fahrverhalten im Gelände bringen. Auf der Straße wird sich die neue Fahrwerksauslegung nicht wirklich negativ bemerkbar machen, auch wenn sich das 17-Zoll-Vorderrad der Basis-Multistrada wohl agiler bewegen lässt und der breite 190/55-17-Hinterreifen (Enduro: 170/60-17) mehr Aufstandsfläche in Kurven bietet. Das bedeutet, dass sich auch die 1200 Enduro sauschnell auf dem Asphalt bewegen lässt.

Der brachiale V2 bietet immer und überall Leistung im Überfluss. Wer den Modus „Sport“ einlegt, den katapultiert das riesige Bike aus jeder Kurve und der Fahrer kann, dank Elektronik, darauf vertrauen, dass der Kurs gehalten wird. Das semi-aktive Fahrwerk sorgt im „Touring“- und „Urban“-Modus für sänftenartigen Komfort, während es bei sportlicher Gangart stets auf den Punkt genau Federung und Dämpfung den Erfordernissen anpasst. Es soll sogar Sprünge im Gelände erkennen und für eine gut abgefederte Landung sorgen. Das werden wohl die wenigsten Käufer überprüfen wollen.

Gut, aber nicht billig

Billig ist das Vergnügen natürlich nicht: 19.990 Euro kostet die Multistrada 1200 Enduro. Die optionalen Pakete „Touring“, „Sport“, „Urban“ und „Enduro“ kosten ein bis zwei Tausender extra. Zusätzlich kann sich der Kunde bei der Aufpreisliste großflächig austoben und seinen Geldbeutel strapazieren. Etwa mit dem schicken Alu-Koffer-System des deutschen Zubehöranbieters Touratech.

Für wen ist die Multistrada 1200 Enduro gedacht? Zunächst einmal bestimmt nicht für Hart-Enduristen. Moderne, schwere Reiseenduros sind für den 90-prozentigen Straßeneinsatz konzipiert, die Multistrada 1200 Enduro verschiebt das Verhältnis vielleicht auf 80 Prozent Asphalt. Sie ist erwägenswert für Reiselustige, die gerne lange Distanzen abreißen und die auch vor Schotterpisten nicht zurückschrecken. Der 30-Liter-Tank soll, laut Ducati, für Reichweiten von über 450 Kilometer taugen und der Komfort des Motorrads ist hervorragend. Allerdings war es schon immer etwas teurer, eine Ducati zu fahren, was KTM freuen könnte. Deren V2-Reiseenduro mit semi-aktivem Fahrwerk 1290 Super Adventure [3] gibt es schon für 17.995 Euro. Damit unterbietet sie die Italienerin um zwei Tausender.


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[1] https://www.heise.de/autos/artikel/Klartext-Die-unertraegliche-Schwere-des-Scheins-2577738.html
[2] https://www.heise.de/autos/artikel/SUV-ohne-Allrad-Stattgelaendewagen-3140606.html
[3] https://www.heise.de/autos/artikel/Klartext-Abenteuer-abenschwer-2302844.html