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Enduro de Luxe: Die KTM 1290 Super Adventure im Fahrbericht

Drahtspeichenakt

Fahrberichte iga
Zweirad, KTM

Ausgerechnet die österreichische Marke, deren Slogan „Ready to race“ sie im Sportenduro- und Motocross-Bereich ganz nach vorne gebracht hat, bringt ein Motorrad auf den Markt, das nicht nur in Sachen Leistung, sondern auch in Elektronik und Komfort die Referenzklasse stellt

Las Palmas (E), 20. Februar 2015 – Früher hieß Enduro: „Geländegängiges Motorrad mit geringem Gewicht, langen Federwegen und einem robusten Fahrwerk“. Die Motorleistung kratzte im Extremfall an der 50-PS-Marke, aber es hat für den Spaß im Gelände und die Sahara-Tour gelangt. Heute verstehen die meisten unter „Enduro“ ein Riesen-Reiseeisen, viel zu unhandlich fürs echte Gelände. Wie die SUVs auf dem Automarkt boomen sie seit Jahren und die Hersteller überbieten sich gegenseitig mit immer neuen Modellen. Die jüngste Sensation in Sachen Reiseenduro stammt von KTM.

Zur Zeit Referenzklasse

Ausgerechnet die österreichische Marke, deren Slogan „Ready to race“ sie im Sportenduro- und Motocross-Bereich ganz nach vorne gebracht hat, bringt eine Reiseenduro auf den Markt, die zum Maßstab in Sachen Leistung, Elektronik und Komfort werden könnte.

Dabei hat KTM mit der 1190 Adventure schon seit zwei Jahren ein beeindruckendes 150-PS-Bike am Start, das kaum Wünsche offen lässt. Jetzt aber will die Marke zeigen, was geht. Die 1290 Super Adventure ist so was wie der Porsche Cayenne Turbo S [1] unter den Motorrädern: Unfassbar viel Leistung, fährt sich aber dank ausgeklügelter Elektronik lammfromm und saubequem. Es sei denn, der Fahrer legt es darauf an, seine Grenzen (fast immer unterhalb der Möglichkeiten des Fahrzeugs) ausloten zu wollen, dann entwickelt das Gerät eine unglaubliche Dynamik. Der 75-Grad-V2-Motor mit 1301 cm3 der Super Adventure hat Kolben in Untertassen-Dimensionen und stammt aus der KTM 1290 Super Duke [2], die den Kosenamen „the Beast“ trägt.

Für die Super Adventure wurde die Leistung von 180 auf 160 PS zurückgefahren. Dafür bekam sie neue Zylinderköpfe mit optimieren Ein- und Auslasskanälen, die Kurbelwelle erhielt zwei Kilogramm mehr Schwungmasse und das Motormanagement wurde neu abgestimmt. Die Kolben verfügen über die Box-in-Box-Struktur wie sie in der Formel 1 eingesetzt werden, und obwohl sie im Durchmesser gewachsen sind, wiegen sie 47 Gramm pro Stück weniger als ihre Pendants in der 1190er. Das Entwicklungsziel für die 1290 war eine noch bessere Fahrbarkeit im unteren Drehzahlbereich und Berge von Drehmoment.

Schon die nackten Zahlen können beeindrucken: Der V2 hat ab 2500/min stets mehr als 108 Nm Drehmoment an der Kurbelwelle und gipfelt bei 6750 Touren in massiven 140 Nm. Doch noch viel eindrucksvoller ist die Abstimmung des Ride-by-wire-Systems: Der mächtige Motor geht so sanft, absolut ruckfrei und exakt dosierbar ans Gas, dass einem unweigerlich der uralte Gedanke ans Gummiband kommt. Wer je die ersten LC8-V2 mit 990 Kubikzentimeter von KTM gefahren ist, erinnert sich mit Grausen an fürchterliches Geruckel und deftige Schläge im Antriebsstrang beim Gasanlegen, die einen sauberen Strich in der Kurve unmöglich machten.

Keine Drahtspeichen-Reiseenduro bietet mehr

Die 1290 Super Adventure ist eine andere Welt, vollgestopft mit modernster Elektronik wie ein Space Shuttle. Keine andere Reiseenduro mit Drahtspeichenrädern bietet zurzeit mehr Leistung und Ausstattung. Die adäquate Konkurrenz steht auf Gussfelgen und schwört damit der Idee der Geländegängigkeit ab. Ein neu konstruierter und nur 9,8 kg wiegender Gitterrohrrahmen aus Chrom-Molybdän-Stahl bringt der Super Adventure hohe Steifigkeit. Das Gewicht ohne Benzin beziffert KTM auf 229 kg, mit vollem Tank sollen es 249 kg sein, womit die 1290 Super Adventure sich im Durchschnitt der Mitbewerber bewegt.

KTM verschließt sich weiterhin dem Kardan als Antrieb zum Hinterrad und verficht die Philosophie, dass eine Kette immer noch leichter ist und weniger Leistung schluckt. Tatsächlich erweist sich die Super Adventure, trotz ihrer Größe, als erstaunlich agiles Fahrzeug, das selbst enge Serpentinen mit einer Geschmeidigkeit nimmt, die sonst deutlich leichteren Motorrädern vorbehalten ist.

Einen Großteil davon hat die KTM sicher ihrem serienmäßigen semi-aktiven Fahrwerk von WP zu verdanken, das sich elektronisch in Millisekunden auf jede Fahrsituation einstellt. Vorbei die Zeiten, als man mit Hilfe von Schräubchen mühsam einen Kompromiss in Vorspannung, Zug- und Druckstufe an Gabel und Federbein finden musste. Die Super Adventure verfügt über vier Fahrmodi sowie Combined-ABS inklusive Kurven-ABS [3] und Traktionskontrolle von Bosch. Wenige Knopfdrücke am linken Lenkerende genügen, um den gewünschten Fahrzustand herzustellen. Die Menuführung im fast rein digitalen Cockpit – dankenswerterweise hat der leicht ablesbare analoge Drehzahlmesser überlebt – ist so simpel, dass selbst Novizen sie auf Anhieb begreifen.

Alles adaptiv

Für die Dämpferabstimmung des semi-aktiven Fahrwerks stehen die vier Einstellungen „Komfort“, „Street“, „Sport“ und „Offroad“ zur Verfügung. Die nötigen Informationen erhält die SCU (Suspension Control Unit) permanent über Federwegssensoren und Beschleunigungsmesser an Front und Heck. Die Kennfelder sorgen für das geforderte Verhalten des Fahrwerks und zwar spürbar. Im Modus „Komfort“ bietet die KTM ein Maximum an Bequemlichkeit, es lässt sich sogar auf „Zwei-Personen-mit-Gepäck“ einstellen, so dass das Heck noch mehr Vorspannung erhält. Wenn hingegen die Wahl auf „Sport“ fällt, spricht das Motorrad deutlich straffer und aggressiver an. Unter „Street“ versteht KTM die goldene Mitte aus „Sport“ und „Komfort“, während „Offroad“ ein Durchschlagen selbst bei tiefen Löchern quasi unmöglich macht. Trotz allem spendierte KTM seiner Enduro de Luxe auch einen Lenkungsdämpfer, um sicher zu gehen, dass die geballte Power nicht zu einem ausschlagenden Lenker führt.

Das MSC-Paket (Motorcycle Stability Control) von Bosch regelt ABS und Traktionskontrolle. Was hier zumeist unbemerkt vom Fahrer im Motorrad abläuft, ist High-Tech vom Feinsten, aber bei 160 PS auch dringend notwendig. Die MTC (Motorcycle Traction Control) kann der Fahrer in fünf Stufen einstellen. „Street“ ist für die meisten Situationen die passende Wahl, bei „Sport“ sind leichte Drifts mit dem Hinterrad auf der Rennstrecke möglich (falls sich irgendjemand berufen fühlt, im Reich der Gebückten mit der Reiseenduro einzuheizen), wohingegen „Rain“ die Motorleistung auf höchstens 100 PS limitiert und ein Durchdrehen des Hinterrads selbst im strömenden Regen verhindert. Das Gegenteil bewirkt der „Offroad“-Modus: Er lässt bis zu 100 Prozent Schlupf am Hinterrad zu, also die doppelte Umdrehungszahl des vorderen Rads, denn im Gelände sind Drifts oft erwünscht. Für die Profis besteht sogar die Möglichkeit, die Traktionskontrolle ganz auszuschalten. Wer dann übermütig zu Werke geht, wird aber schnell feststellen, was 1301 cm3 auf losem Untergrund anstellen – das ist wie Ballet auf einer Eisfläche.

Ausgezeichnete Bereifung

Das ABS regelt dabei in jedem Fahrmodus entsprechend sicher, wobei es im „Offroad“-Modus am Vorderrad mehr Schlupf zulässt und das Hinterrad blockiert werden kann. Auch das ABS lässt sich komplett deaktivieren. Die kleinere 1190 Adventure bot als erstes Serienmotorrad der Welt ein Kurven-ABS, da versteht es sich von selbst, dass die 1290 dieses Sicherheitsplus ebenfalls trägt. Es verhindert nicht nur ein Blockieren der Räder, sondern auch ein Aufstellen des Motorrads beim Bremsen in Schräglage.

Wer die Traktionskontrolle deaktiviert – was nur im Stand möglich ist – und den Modus „Sport“ wählt, erlebt plötzlich eine Verwandlung seines Motorrad vom braven Dr. Jekyll zum bösen Mr. Hyde. Eben noch trug die 1290 Super Adventure ihren Fahrer noch sänftengleich durch die Stadt und über Land, jetzt erlebt er den Ritt auf der Kanonenkugel. Selbst im dritten Gang reißt es bei Vollgas das Vorderrad in die Luft, die KTM hechtet vehement nach vorne, so dass sich der Reiter vorkommt wie auf einem durchgehenden Büffel. Ein Lob verdienen sich dabei die Conti TrailAttack 2, die in den Dimensionen 120/70-19 und 170/60-17 auf der Super Adventure ausgezeichnet funktionieren und besten Grip bieten.

KTM war es wichtig, dass ihr neues Flaggschiff serienmäßig über Ausstattungen verfügt, die woanders zum Teil erheblichen Aufpreis kosten, wie das semi-aktive Fahrwerk und die MSC. Dazu gehört auch ein Tempomat am rechten Lenkerende, der sich in den Gängen vier bis sechs im Geschwindigkeitsbereich von 40 bis 200 km/h aktivieren lässt. Allein die letzte Zahl wird wieder Anlass für heftige Diskussionen sein. Wo die Höchstgeschwindigkeit liegt, ließ sich auf der Tagestour nicht ermitteln und KTM hält sich diesbezüglich bedeckt, aber 250 dürfte die 1290er vermutlich schaffen, auch wenn ihr sechster Gang im Vergleich zur Super Duke zugunsten eines niedrigeren Verbrauchs länger übersetzt wurde. Dabei schützt der stufenlos verstellbare, riesige Windschild bei hohen Geschwindigkeiten sehr effektiv, allerdings verzerrt er in der obersten Position.

Je schräger desto heller

KTM setzt auf LED-Technik beim Scheinwerfer, Rücklicht, Tagfahrlicht und den Blinkern. Als besonderes Sicherheitsfeature verweist der Hersteller stolz auf das Kurvenlicht. Auf beiden Seiten des Tanks wurden je drei übereinander angeordnete LEDs integriert, die sich nacheinander einschalten, je tiefer das Motorrad in Schräglage geht. Wenn alle drei Leuchten angehen, darf sich der Fahrer sicher sein, über 30 Grad Schräglage geschafft zu haben. Zum Besten auf dem Markt gehört die neu konstruierte Sitzbank, die auch nach Stunden noch bequem bleibt und eine mehrstufige Sitzheizung sowohl für Fahrer als auch dem Sozius bietet – serienmäßig. Eine Anti-Hopping-Kupplung wirkt einem Schlag im Antriebsstrang beim zu schnellen Runterschalten entgegen.

Dass ein potenter Motor kein Sparwunder sein kann, versteht sich von selbst, dennoch lässt sich der große V2 mit rund sechs Litern auf 100 km bewegen. Über die Tankstellendichte muss sich der Fahrer dabei keine Sorgen machen, der 30-Liter-Tank reicht entsprechend für 500 km. Dabei ist er im Oberschenkelbereich verhältnismäßig schmal ausgefallen, spreizt also die Beine nicht zu sehr, wie überhaupt die Sitzposition sehr entspannt ausfällt. Der vordere Teil der Sitzbank lässt sich mit wenigen Handgriffen von 875 auf 860 mm reduzieren, was auch Reiter ohne Gardemaß beruhigt aufsitzen lässt.

Der Serienstandard wäre anderswo sehr teuer

Bei der Ausstattung lässt sich KTM auch sonst nicht Lumpen: Wegfahrsperre, Reifenluftdruckkontrolle (TPMS), automatisch zurückstellende LED-Blinker, sensorgesteuertes Tagfahrlicht, Griffheizung, Handprotektoren, Sturzbügel, Hauptständer, 12-Volt-Buchse, Kofferträger und Gepäckträger sind serienmäßig an Bord. Wer in die Vollen gehen will, kann auch noch gegen Aufpreis Spielereien ordern wie die Berganfahrhilfe HHC (Hill Hold Control), die ein Zurückrollen beim Anfahren an Steigungen verhindert oder die Motorschlupfregelung MSR (Motor Slip Regulation), die dem Motorschleppmoment entgegenwirkt und ein Blockieren des Hinterrads beim abrupten Gasschließen oder einem zu schnellen Einrücken der Kupplung unterbindet. Koffer und Topcase können selbstverständlich ebenfalls direkt beim Händler bestellt werden.

Anreise, Verpflegung und Probefahrt gingen auf Kosten des Herstellers.


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