Jeder musste etwas zu Volkswagen sagen, keiner wusste was

Die verlorene Ehre der Katharina Autoindustrie

Im Dieselskandal gibt es keine Gewinner, und es soll auch keine geben. Jeder, der schreiben kann, fordert jetzt und prangert an und weiß alles besser. Manche wollen gar schadenfreudig die ganze Industrie fallen sehen

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 38 Kommentare lesen
Klartext 3 Bilder
Lesezeit: 8 Min.
Von
  • Clemens Gleich
Inhaltsverzeichnis

Zu meiner Schulzeit gab es einen schwarzen Tag. Die Deutschlehrerin führte uns in die Dungeons, um uns dort einer perfiden Folter zu unterziehen. Sie projizierte einen Film namens "Die verlorene Ehre der Katharina Blum" auf eine gilbgelbe Leinwand. Das ist ein langweiliger, langatmiger Film über alles, was am Deutschsein deprimierend ist, denn er folgt einem Buch von Böll, dessen Lebensziel es schien, die Deutschen zu deprimieren. An Katharina, Böll und die Deutschen musste ich in den letzten Tagen oft denken. Denn das Spektakel um Volkswagen läuft nicht minder folternd ab als diese Böll-Verfilmung.

Irgendwie sind wir offenbar alle Volkswagen, so wie die Bild damals der Papst sein wollte ("Wir sind Papst!"). Deshalb muss jetzt ausnahmslos JEDER etwas zu VW-Abgasen sagen (QED), obwohl keiner etwas darüber weiß. Der Chef der Katholen sprach. Der Chef der Evangelen forderte irgendwas. Ich warte nur noch auf den Zentralrat der Juden und den der Moslems, vielleicht haben wir auch noch was Esoterisches da. Jeder Betrug heißt jetzt "einen Volkswagen" machen oder gar "Volkswaging" im Englischen, denn Betrüge anderswo sind allein offenbar zu langweilig. Dirk Müller vermutet den Wirtschaftskrieg, wobei Dirk Müller als alter Wirtschaftskrieger stets zuerst den Wirtschaftskrieg vermutet. Natürlich musste ein Anleger klagen, natürlich hat jemand den alten, aber immer ziehenden Trick mit der Staatsanwaltschaft abgezogen: Wenn jemand einer Straftat beschuldigt wird, ermittelt in Deutschland IMMER die Staatsanwaltschaft, denn sie ist es auch, die die Ermittlungsbehörden beauftragt, also die Polizei. Wenn ich folglich Til Schweiger anzeige wegen Volksverhetzung (Straftat), dann prüft die Staatsanwaltschaft das und ich habe meine Nachricht – selbst, wenn die Staatsanwaltschaft nach drei Sekunden mit einem kopfschüttelnden "so ein Depp" diese Anzeige fallen lässt.

Jeder spannt die Affäre eben vor seinen ureigenen Karren. SpOn-Kolumnist Jan Fleischhauer schrieb einen herrlichen Nonsens darüber, dass alles besser wäre bei VW, wenn nur alles von Frauen entschieden worden wäre, denn wir wissen ja alle seit Alice der Großen, dass Frauen unfehlbar entscheiden, wegen sozial oder weich oder so. Jans Text hat dieselbe Wirkung wie ein Auftritt von Donald Trump: erst belustigte Unterhaltung, dann dieses "Scheiße, der meint das ERNST!". Jeder einzelne Politiker hat sich empört über Volkswagen, gern mehrfach. Am besten fand ich persönlich Wolfgang Schäuble, der die globalisierte Gier anprangerte. "Man steht fassungslos davor", sagte er, und wir alle standen fassungslos vor der Marianengraben-weiten kognitiven Dissonanz dieses Menschen.