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Der Stern klassischer Messen sinkt. Das Informationszeitalter ist schuld

Klartext: Ver-Messen

Klartext Clemens Gleich
Klartext

Dieser Tage hat auchToyota gesagt, man wolle nicht auf der IAA ausstellen. Der Riese aus Japan reiht sich damit ein in eine ganze Reihe Hersteller, denen die Messe nicht mehr so wichtig ist, auch wenn sie gleichzeitig das Gegenteil behaupten

Toyota [1] will also auch nicht auf der IAA ausstellen, und wir haben erst Februar. Die Hersteller betonen gebetsmühlenartig, dass die traditionelle Messe nicht tot sei, um unmittelbar darauf weiter an ihrem Grab zu schaufeln. Es liegt aber nicht an dir, gute alte IAA, zumindest nicht konkret. Das Modell Messe an sich kämpft im Informationszeitalter um seine Existenzberechtigung.

Wer als Kunde gern auf Messen geht, wundert sich darüber: Er ist doch hier, er interessiert sich, er will die Neuigkeiten mit eigenen Augen sehen, er will sich hineinsetzen, um selber zu beurteilen, wie premium er das Plastik tatsächlich findet, er will sich auf das Motorrad [2] setzen, um zumindest einen allerersten Eindruck der Sitzergonomie zu erhalten. Deshalb sinken auch die Besucherzahlen nicht so stark, wie man es anhand der Nachrichtenlage erwarten würde. Ich stelle daher die These auf: Es liegt nicht am Endkunden-Besucher, sondern an der Multiplikatoren-Rechnung der Hersteller.

Hersteller -> Bote -> Kunde

Für große Hersteller ist es zwar ganz schön, wenn sich ein paar tausend Leute in oder auf ein neues Fahrzeug setzen, aber er will hauptsächlich, dass die Existenz und die Qualitäten seines neuen Produkts möglichst vielen Menschen auf einmal bekannt gemacht werden, und da sind Messebesucher nur ein kleiner Teil. Früher gab die Messe einen guten Anlass, Berichterstattung zu bündeln. Messeschwerpunkte in Fahrzeugheften finden bis heute statt, ihr Ursprung liegt aber in vergangenem Verhalten. Der Interessent wusste: „Jetzt gerade wird Neues diskutiert, ich kann mich informieren.“ Der Hersteller wusste, dass viele Interessenten zuhören. Der Bote in den Medien machte sich diese beiden Umstände zunutze, um aus der Informationsvermittlung ein damals sehr lukratives Geschäft zu machen. Viele Parameter haben sich jedoch geändert.

Der große Nachteil des Informationszeitalters ist der Überfluss an Information. Wir als Primaten sind schlecht ausgerüstet, Information zu ignorieren. Viele meiner Kollegen lesen zwanghaft Nachrichten des Tagesgeschehens, die sie unglücklich zurücklassen und nichts mit dem Tagesgeschäft ihres Fachbereichs zu tun haben. Auf Facebook [3] fechten wir Schlachten gegeneinander, als gäbe es etwas zu gewinnen. Es gibt aber nichts zu gewinnen außer Plätze in sehr verfahrenen Gräben, in denen Weltsichten gemeinsam einsickern, gemeinsinnig gegen „die anderen“ (Weltsichten). Deshalb macht Facebook so unglücklich. „Digital Detox“ wurde zum Begriff, der Verzicht auf Informationen also, auf dass das Hirn heile.

Hier, Ozean, nimm Salz!

Wenn Hersteller also Informationen ausstreuen, stehen sie heute vor dem Problem, dass sie mit dem Salzstreuer am Ozean ankommen. Wer ausreichend Publikum finden will, muss das tun, wenn und wann immer es aufnahmebereit scheint. Verständlich, dass mancher Hersteller denkt, seine Information gehe in einer Messewelle unter. Es gab über die Zeit immer mehr Neuvorstellungen schon vor den Messen, stets kritisiert von Boten aus der Medienwelt, die schnell ahnten, was das für sie bedeutet. Die gesammelten Erfahrungen zeigten offenbar, dass die Messe nicht nötig ist, wenn Millionen deine Botschaft ohne sie schon hören.

Am meisten Bang for the Buck gibt es also darin, wenn die Information direkt zu Multiplikatoren kommt, und zwar zu möglichst großen. Die Presse sieht es nicht gern, dass die Hersteller immer mehr Influencer und Youtuber einspannen. Aber ich würde es genauso machen. Reichweite hat einen Wert. Die von der Presse beschworene Qualität der Reichweite existiert sicherlich irgendwie, aber eben kaum vorhersehbar, messbar, planbar. Bewährt hat sich jedoch das flächige Ausschütten von Infos, denn wenn die Gießkanne nur groß genug ist, trifft sie auch die Richtigen.

Für den Messefreund sind das schlechte Nachrichten. Wie viel klassische Messen es künftig geben wird, weiß niemand. Wir können aber befürchten, dass sie weniger interessant werden, weil weniger große Neuigkeiten dort stehen. Für Messeunternehmen führt kein Ausweg aus dem Dilemma. Es wird immer von ihnen gefordert, ihre Veranstaltungen sollen „mehr Event-Charakter“ bieten. Die Forderer fordern das, weil ihnen Dinge wie der Web Summit so gut gefallen.

Zum Web Summit gehen aber nur Fachleute, die sich gegenseitig mit Ideen befruchten wollen. Da geht es zu wie bei der Ü40-Party nach ein Uhr mit Recruitern, Codern, Startups, jeder farbig auf einen Blick erkennbar markiert. Das kann man nicht vergleichen mit einer normalen Messe, die ist nämlich eher wie ein Restaurant. Befruchtungen passieren eher vorher, eher nachher, nur ausnahmsweise währenddessen. Gehen wir also davon aus, dass die aktuellen Entwicklungen zunächst so weitergehen. Wir können die Hersteller nicht ändern. Wir können uns aber ändern, vor allem unseren Umgang mit Informationen.

Historie eines Junkies

Ich persönlich konnte schon als Kind nicht mit Informationen umgehen, obwohl sie damals noch viel weniger aufdringlich in Form von Worten auf Papier oder gar Mikrofiche (die Älteren erinnern sich, die Jüngeren rechtsklicken für ein Google-Query) vorlag. Ich stopfte alles in mich hinein, ich las jedes Wort jeder Seite jedes Magazins meines Vaters, war top informiert in Sachen Gartengestaltung und weibliche Anatomie. Ich las die Berge von Büchern, aus denen unsere Wände bestanden. Ich kaufte neue Bücher. Als ich kein Geld mehr für meine Droge hatte, ging ich in die Bibliothek, die mir versprach, sie könne mir „ALLES beschaffen“. Einem kurzen Moment der Seligkeit folgte Ernüchterung: Sie konnte mir alles beschaffen, aber ich konnte unmöglich alles konsumieren. Sowohl die verfügbare Lebenszeit als auch meine geistige Gesundheit reichten nicht aus.

In dieser Zeit entwickelte ich meine mentale Superkraft: Ignoranz. Ich entschied, was ich gut fand und las in der Folge nur noch diese Themen. Bis heute weiß ich nie, wann wer warum Fußball spielt oder besoffen hinter einer Pappnase schunkelt. Feindseligkeit liegt mir dabei fern. Ich hasse Fußball oder Fasching nicht. Es interessiert mich nur nicht. Ich habe die Finanzkrise 2008 komplett ausgelassen, wusste nur davon, weil alle sagten „Krise, Krise“.

Als ich selber zu Messen musste, drückte ich mich, so gut es eben ging. Ich war zwei Mal auf der Cebit [4], weil ich dafür bezahlt wurde. Ich war ein Mal auf der Intermot, aus demselben Grund. Trotz Bezahlung reichte ich in der Folge zu Messezeiten Urlaub ein, der wider Erwarten klappte – vielleicht, weil niemand sonst das tat. Statt Cebit hing ich bourgeois mit gespreiztem Finger in Straßencafés ab, immer mit Lesestoff. Statt Intermot-Hallenluft ließ ich mir Alpen-Höhenluft im Sattel der Aprilia Shiver ums Gesicht wehen.

Wenn einer keine Reise tut …

Dabei stellte ich fest, dass der Nichtmessegänger mehr mitkriegt als der Messegänger. Vor Ort hetzt du verschwitzt von Termin zu Termin, nur um schließlich festzustellen, dass daheimgebliebene Redakteure dein Thema längst gemütlich mit trinkbarem Kaffee in Artikel umsetzen konnten. Manche Dinge wissen wir zwei Wochen vorher mit aber-Pscht!-Erklärung, damit wir mit dem üblichen Vorlauf ein Messepapierheft bauen können. Ich habe den Fehler gemacht, dieses Jahr zur CES [5] zu gehen, weil ich die Messe in der Kindheit bei der Lektüre von Videospiel-Heften idealisierte. War genauso unüberraschend wie die Intermot.

Wenn also morgen alle Messen dicht machen, müssen weder Redakteure noch Kaufinteressenten traurig sein. Wir könnten uns als Autofahrer, als Technik-Enthusiasten, als Kradisten auf die Dinge konzentrieren, die uns bewegen sollen, statt auf die Dinge, die das wider unseren Willen tun. Weniger Trump in der Timeline, mehr Triumph-Motorräder. Weniger AfD. Mehr Audi. Weniger gegenseitiges Anschreien wegen Immigration. Mehr Autokultur von Anderswo. Das Geheimnis stressfreieren Lebens liegt in der Einflusskontrolle. Die Technik lenkt uns nicht nur ab, sie kann uns auch helfen beim Ignorieren, mit automatischen Filtern. Das wird gern als Problem beschrieben, aber glauben Sie mir: Wichtige Nachrichten erreichen Sie immer. Was The Donald wieder gesagt hat, gehört nicht dazu. Bleibt nur das Probesitzen als Messemerkmal. Aber es geht das Gerücht, dass der örtliche Händler Sie auch sitzen lässt, ja: fahren gar.


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[4] https://www.heise.de/newsticker/meldung/Nach-dem-Aus-in-Hannover-Cebit-geht-nach-Russland-und-Australien-4264018.html
[5] https://www.heise.de/thema/CES